Jugendbuch | Tamara Bach: Marienbilder
Das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern ist nicht das einfachste. Das gilt schon, wenn man tagtäglich miteinander umgehen muss. Konflikte sind unausweichlich. Manchmal aber entsteht der Konflikt erst, wenn eine Partnerin plötzlich fehlt. So ergeht es Mareike, ihre Mutter hat die Familie verlassen. Tamara Bach stellt in ihrem neuen Roman Marienbilder ihre sechzehnjährige Protagonistin vor diese Situation. Und Mareike muss sich fragen, ob sie ihre Mutter eigentlich je richtig gekannt hat. Von MAGALI HEISSLER
Wenn die Erzählung einsetzt, ist »es« schon geschehen‚ Mareikes Mutter ist gegangen, ohne etwas zu sagen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Der Ehemann und Vater dekretiert, dass die Familie weiterlebt, als wäre nichts geschehen. Niemand darf etwas erfahren. Die beiden Geschwister, um einiges älter als Mareike, widersprechen nicht. Auch Mareike, die Icherzählerin, hat zunächst nichts dagegen, den Schein aufrechtzuerhalten. Es wäre schrecklich, wenn sie bei den Nachbarn oder gar in der Schule plötzlich zum Gegenstand allgemeinen Mitleids würde.
Das Schweigen erweist sich jedoch als viel zu schwere Aufgabe. Mareike fühlt sich verlassen und verletzt. Vor allem möchte sie verstehen, warum ihre Mutter gegangen ist. Sie spürt ihr nach, in Gedanken. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, denn sie erkennt langsam, dass sie wenig über die Mutter weiß. Auch über die inneren Konflikte ihrer Familie weiß sie zu wenig. Schon immer blieb viel zu viel ungesagt. Mareike beginnt nachzuforschen, aber sie findet kaum Hinweise und Hilfe schon gar nicht. Außer in ihrer Fantasie, nur so kann sie Mutterbilder konstruieren.
Die Suche nach dem Kern
Der Einstieg in diesen kurzen Roman ist sperrig, sprachlich ebenso, wie der Handlung nach. Die Form ist sehr wichtig hier. Was man zu lesen bekommt in einem steten Fluss von Imaginationen, sind die tastenden Versuche einer Sechzehnjährigen, ihre eigene Mutter zu erfassen. Sehr schnell wird deutlich, dass diese eine große Unbekannte war. Sie war einmal jung, sie hat einmal geliebt. Bevor sie heiratete. Das erste Szenario Mareikes also ist das einer Flucht zu einem Geliebten. Aber die Geschichte hält nicht stand. Mareike arbeitet sich weiter, von einer Geschichte zur nächsten, auf der Suche nach dem Kern, der die Wahrheit enthält. Vielleicht.
Ihr eigener Alltag mischt sich in ihre Bemühungen, ihre Mutter zu verstehen. Eine Party, ein wenig Verliebtheit. Oder auch nicht. Schnell verschwimmen die Grenzen zwischen eigenem Erleben und dem Fantasieren über das Leben ihrer Mutter. Im Lauf der Tage kommt die Geschichte einer vorgeblich normalen, tatsächlich aber unglücklichen Familie zum Vorschein. Unerfüllte Liebe, Unselbstständigkeit und mangelnde Durchsetzungskraft. Voreheliche Schwangerschaft, etwas, das Mareikes Mutter mit der Großmutter teilt und das auch Mareike ausagiert. Ob real oder fiktiv, diese Entscheidung bleibt, wie vieles in diesem schwierigen Text, der Leserin überlassen.
Zwang zu leben, Zwang zu schweigen
Bachs Blick auf die Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist skeptisch, über weite Strecken fast illusionslos. Die Heiligenbildchen, auf denen Maria abgebildet ist, und die die schon etwas altersdemente Großmutter so liebt, sind Bilder der nach wie vor bestehenden Rollen, in die Frauen unverändert hineingezwungen werden. Die Heilige, die Mutter und Fürsorgerin, die Hure. Wo ist Platz für den weiblichen Menschen, wird hier gefragt. Wo der Platz für ihre Träume, für ein selbstbestimmtes Leben? Die Familie wird eher zum Grab für diese Vorstellungen und das Schweigen das Gift, das den Tod bringt. Der Zwang, auf eine bestimmte Weise zu leben, entspricht dem Zwang, über alles zu schweigen, was man wirklich fühlt. Auch Mareike ist ihm schon unterworfen. Am Ende steht nur die Einsicht, dass geschehen ist, was eben geschehen ist. Ihre Mutter ist fort.
Ich bin eine Geschichte, die ich nicht lesen will, sagt Mareike einmal. Eine komplizierte Geschichte, hin und wieder zu schwierig. Der Text erschließt sich nicht leicht, nicht nur jungen Leserinnen wird einiges abverlangt. Dazu gehört auch die unangenehme Einsicht, dass man überkommene Vorstellungen von Müttern dringend überprüfen sollte.
| MAGALI HEISSLER
Titelangaben
Tamara Bach: Marienbilder
Hamburg: Carlsen 2014.
176 Seiten, 13,90 Euro
Ab 14 Jahren