Zwischen Harlekin und Prophet

Menschen | Zum Tod des Schriftstellers Urs Widmer

»Ich heiße Vigolette alt. Ich bin ein Zwerg. Ich bin acht Zentimeter groß und aus Gummi.« So leitete Urs Widmer 2006 seinen Roman ›Ein Leben als Zwerg‹ ein, der – aus der Perspektive des Lieblingsspielzeugs des Sohnes – eine Fortsetzung seiner beiden »Familien«-Romane ›Der Geliebte der Mutter‹ (2000) und ›Das Buch des Vaters‹ (2004) bildete und uns gleichzeitig diverse Facetten des Autors präsentierte: den ernsten nachdenklichen Schriftsteller und den märchenhaften, verspielten Fabulierer. Von PETER MOHR

Urs Widmer. Foto: "Dontworry". Lizenz: cc-by-sa 3.0
Urs Widmer. Foto: „Dontworry“. Lizenz: cc-by-sa 3.0
Urs Widmer gehörte zu den wenigen zeitgenössischen Schriftstellern, für die Humor und Tiefsinn keinen unüberbrückbaren Gegensatz darstellen. Moderne Märchen, bizarre Theaterstücke, sprachartistische Hörspiele und kunterbunte Erzählwerke hatte er in den letzten 45 Jahren vorgelegt – stets darauf bedacht, die Waage zu halten zwischen Aufklärung und anspruchsvoller Unterhaltung.
Einen repräsentativen Querschnitt aus Widmers künstlerischem Schaffen hatte der Diogenes Verlag im letzten Jahr mit einem opulenten, hochwertig ausgestatteten Band vorgelegt, der 32 Erzählungen enthält – angefangen mit Widmers Debütwerk ›Alois‹ (1968) bis hin zu ›Reise nach Istanbul‹ (2010).
»Ich lebe seit 1968 von dem, was ich schreibe. Das muss mir zunächst einmal einer nachmachen, das ist realistisches Schreiben. Am Anfang hatten wir null Geld. Aber ich kann mich an keine Sekunde des Leidens, an keine Armut erinnern«, erklärte Widmer, der am 21. Mai 1938 als Sohn eines Gymnasiallehrers, Übersetzers und Literaturkritikers in Basel geboren wurde. Als er 1968 mit seiner Erzählung ›Alois‹ debütierte, hatte er gerade sein Studium mit der Promotion abgeschlossen und arbeitete als Verlagslektor bei Suhrkamp.

Urs Widmer, der sich ausgiebig mit Nabokov und Joseph Conrad beschäftigt hat, beherrschte die gesamte Bandbreite der literarischen Genres und betrieb ein amüsantes Verwirrspiel mit den künstlerischen Formen. In den Erzählwerken ›Der blaue Siphon‹ (1992) ›Liebesbrief für Mary‹ (1993), und ›Im Kongo‹ (1996/alle auch bei Diogenes erschienen) dominiert eine eigenwillige Mischung aus surrealistischen Sequenzen und knallhartem Realismus. Mit den wechselnden Schauplätzen (Australien, Zürich, Kongo) changierte auch Widmers Erzählduktus. Je exotischer das beschriebene Ambiente, umso farbenfroher, ausdrucksstärker und vitaler wurde die Sprache, die in einigen Passagen beinahe expressionistische Sphären tangierte.

Trotz seiner formalen Verspieltheit war Widmer, der sich auch erfolgreich als literarischer Übersetzer betätigte, niemals ein Elfenbeinturm-Poet. Sein erfolgreichstes Theaterstück ›Top Dogs‹, für das er 1997 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde, ist das Ergebnis einer intensiven Recherche in Managementkreisen. In nur drei Monaten hatte er dieses Stück, das auf über 40 Bühnen gespielt wurde, in Zusammenarbeit mit dem damaligen Züricher Theaterintendanten Volker Hesse fertig gestellt. »Top Dogs ist zu keiner Sekunde langweilig«, urteilte der renommierte Regisseur und Intendant Volker Canaris.

Ob in dem skurrilen Geschichtenband ›Vor uns die Sintflut‹ (1998), im weniger geglückten Theaterstück ›Bankgeheimnisse‹ (2001 in Zürich uraufgeführt), im Essayband ›Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück‹ oder in seinen diversen Zeitungskolumnen: Urs Widmer war immer ein präziser Beobachter des Alltags, ein feinsinniger Analytiker, der vehement gegen das ›Paradies des Vergessens‹ (so hieß eine 1990 erschienene Erzählung, die im letzten Sammelband ebenfalls enthalten ist) anschrieb.

Auch in seinem letzten Roman ›Herr Adamson‹ (2009) trieb Widmer, der tiefsinnige Schelm unter den zeitgenössischen Autoren, wieder allerlei fantastischen Schabernack. Ein Greis erinnert sich an seinem 94. Geburtstag, den er am 21. Mai 2032 feiert (es wäre dies auch Widmers 94. Geburtstag), an eine Begegnung aus Kindheitstagen. Der alte Mann mit Schnauzbart und zotteligen Strähnen um den Glatzkopf herum ähnelte (wohl nicht zufällig) Widmers eigenem äußeren Erscheinungsbild. »Mein Lachen ist zur einen Hälfte Utopie und zur anderen Hälfte der verzweifelte Versuch, die Schrecken auszuhalten«, hatte der Autor einmal in einem Interview erklärt. Im Herbst war noch die Autobiografie seiner ersten dreißig Lebensjahre unter dem Titel ›Reise an den Rand des Universums‹ erschienen.

»Kann man denn nicht lachend auch sehr ernsthaft sein?«, heißt es in Lessings ›Minna von Barnhelm‹. Urs Widmer – mal spottender Harlekin, mal weiser Prophet, hat dies eindrucksvoll geschafft. Am Mittwoch ist Widmer in Zürich im Alter von 75 Jahren nach langer schwerer Krankheit gestorben.

| PETER MOHR

Reinschauen
Urs Widmer im Gespräch – TITEL kulturmagazin
Urs Widmer im Jahr 2009 über seinen ›Herrn Adamson‹ & eine Würdigung von Katrin Weise – Dradio-Audio 4:35 Min
Mehr über seine Bücher – im Perlentaucher

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