/

Erneuerte Demokratie durch Widerstand

Gesellschaft | Costas Douzinas: Philosophie und Widerstand in der Krise

Da sind wir an der Quelle, möchte man ausrufen, endlich! Und würde selbst einigermaßen verblüfft rückfragen, um welche Quelle es sich denn handle. Quelle Europas? Quell des Ärgers? Quelle der Nachlässigkeit? Quell der Besinnung? Quelle einer neuen Gemeinsamkeit? Schon gut, wir nehmen zur Kenntnis, dass sich mit Costas Douzinas ein gebürtiger Grieche in die Auseinandersetzung um die Integration Europas einschaltet, warum sollte er nicht, das war längst an der Zeit. Nein, besonders viele ins Deutsche übertragene Beiträge von Griechen liegen dazu bislang nicht vor. Von WOLF SENFF

Costas Douzinas: Philosophie und Widerstand in der KriseGriechenland ist in einer wenig erfreulichen, aber doch exponierten Lage, weil es das erste Land der EU ist, das die besondere Förderung des Internationalen Währungsfonds (IWF) genießt. Die vom IWF überwiesenen hohen Milliardenbeträge dienen den Schuldendiensten, zu deutsch: sie kommen gar nicht erst bis dort, wo sie benötigt würden, also zu den Griechen, sondern sie werden als Zinszahlung direkt an die Banken durchgereicht, die diese Beträge ja ebenfalls bitter nötig haben, man denke nur daran, welch immense Bonuszahlungen sie alljährlich an ihre Spitzenkräfte ausschütten, Ironie aus.

Von Zahlen und von Theorie

Aufgrund dieser Hilfe des IWF sank das griechische Bruttosozialprodukt um siebenundzwanzig Prozent, die allgemeine Arbeitslosigkeit liegt bei vierunddreißig Prozent, sechzig Prozent der Jugendlichen sind ohne Arbeit, Griechenland steuert auf eine humanitäre Katastrophe zu. Als Außenstehender hat man den Eindruck, da läuft etwas aneinander vorbei, von »Hilfe« kann schwerlich die Rede sein.

Costas Douzinas sucht die Theoriedebatte auf diese komplizierte Situation herunterzubrechen. Er fragt nach Möglichkeiten und Perspektiven des Widerstands, ja er sieht sich in einem »Zeitalter des Widerstands«.

Das klingt für uns Deutsche möglicherweise nicht auf Anhieb einleuchtend, und man kann das verstehen, weil wir in Deutschland, aus welchen Gründen auch immer, ein verwunderliches Versagen der Medien beobachten, in diesem Land wird nichts zur Kenntnis genommen, die empörende Verteilung von Besitz und Reichtum wird mal aufgewärmt, mal wieder fallen gelassen, man ergötzt sich am gleichbleibenden Rhythmus, plus einmal jährlich bei Plasberg oder so aufbereitet. Widerstand? War da was?

Großbuchstaben, Hasskampagnen

Über Griechenland lesen und hören wir abträgliche Sprüche auf Großbuchstabenniveau, diese Art von »Information« greift um sich, unsere Medien müssen sich zurecht Vorwürfe von »Mainstream« und »Gleichschaltung« gefallen lassen. Wir kennen das Phänomen, dass einzelne Personen per gezielter Hasskampagne verächtlich gemacht werden, der Psychokrieg wird trainiert: Saddam Hussein, Gaddafi, Anwar el Sadat, Vladimir Putin etc. pp.

Im Fall Griechenlands handelt es sich um Alexis Tsipras, der sich strikt gegen die Sparverordnungen von IWF und Angela Merkel wendet und möglicherweise mit seiner Syriza-Partei in den Europawahlen von einer Mehrheit gewählt wird. Und klar – die deutschen Medien wenden sich indigniert zur Seite.

Widerstand am Beispiel

In diesem explosiven Spannungsfeld sucht Douzinas nach Ordnung. Die wichtigen Formen des Widerstands sieht er vor allem in den Handlungen der Menschen, zum Beispiel im Januar 2011 im Hungerstreik rund dreihundert maghrebinischer Immigranten. Sie hatten jahrelang in Griechenland gelebt und gearbeitet, wenngleich ohne Papiere, »sans papiers«. Nun sollten sie, die Ärmsten der Armen, kurzerhand deportiert werden. Sie setzten sich jedoch im Hepatia, einem neoklassischen Bau im Zentrum Athens, fest. Vierzig Tage lang hielten sie ihren Hungerstreik durch, mehrere Streikende mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden, und manche trugen bleibende Organschäden davon, bevor die Regierung nachgab und alle Forderungen erfüllte.

Costas Douzinas | © Laika Verlag
Costas Douzinas | © Laika Verlag
Sein zweites zentrales Beispiel ist, beginnend im Mai 2011, die Besetzung des Syntagma-Platzes gegenüber dem Parlamentsgebäude im Zentrum Athens, außerdem die Besetzung des Weißen Turms in Thessaloniki und öffentlicher Räume in sechzig weiteren Städten. Bekannt wurde besonders der Versuch der gewaltsamen Räumung des Syntagma-Platzes durch die Polizei Ende Juni, die Besetzung wurde dennoch bis fast in den August fortgesetzt und schuf neue, spontane, lebendige Formate von Demokratie.

Multitude

Das streng antagonistische Klassenkampf-Schema scheint nicht länger zu einem philosophischen bzw. soziologischen Diskurs zu passen, in dem sich längst der Terminus der Multitude etabliert hat. Multitude ist weniger fassbar, sie ist in Douzinas‘ Verständnis die sich versammelnde Gegenmacht, er grenzt sich etwa gegen Alain Badious Verurteilung der Londoner Unruhen 2011 als »Mob« ab und sieht sich d’accord mit Etienne Balibars Wertung auch der Erhebungen in den Pariser Banlieus als einer Artikulation politischer und sozialer Bewegungen. Er nimmt ebenso Abstand von Slavoj Zizeks Warnung, dass die Linke scheitern werde, solange sie nicht einen klaren Plan für den Tag nach dem Sieg besitze.

Am wichtigsten ist deshalb Douzinas’ Wahrnehmung, dass diese Prozesse von Leben durchdrungen sind, er sieht die Wirklichkeit bestimmt durch einen nicht endenden »welt-schaffenden Kampf zwischen ›techné‹ und ›diké‹«, wobei ›techné‹ für die erneuernde menschliche Gestaltungskraft steht und ›diké‹ für die überwältigende ewige Ordnung. Für Costas Douzinas ist die Multitude ein ›Demos‹, der öffentliche Platz der Versammlung eine Wiederkunft der griechischen ›Agora‹.

Griechenland: Seele Europas

Die so beschriebene griechische Tradition wirft grundlegende Differenzen zum industrialisierten, modernisierten Westen auf, ihr soziales Ethos zeigt sich in einem tiefen Zugehörigkeitsgefühl zu Familie, zu Freunden, zu Gemeinschaft.

Jede Unterscheidung zwischen »fortschrittlichen« europäischen und vermeintlich »rückständigen« griechischen Traditionen wäre oberflächlich und ginge an der Sache vorbei. Costas Douzinas vertritt eine erfrischend selbstbewusste Position, sie fordert gegen den kaltblütigen, den berechnenden Geist des Kapitalismus wieder die Seele ein, auf dass sie den Gesellschaften des Westens nicht endgültig verloren gehe.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Costas Douzinas: Philosophie und Widerstand in der Krise. Griechenland und die Zukunft Europas
(Philosophy and Resistance in Crisis. Greece and the Future of Europe, 2013)
Deutsch von Andreas Förster
Hamburg: Laika 2014
311 Seiten, 24 Euro

Reinschauen
| The deadly threat of friendly Euro fire – Costas Douzinas im Interview

1 Comment

Schreibe einen Kommentar zu The deadly threat of friendly Euro fire Antworten abbrechen

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

The deadly threat of friendly Euro fire

Nächster Artikel

Bouncing through Brooklyn

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Instabil

Gesellschaft | Ansgar Graw: Trump verrückt die Welt. Wie der US-Präsident sein Land und die Geopolitik verändert Ein Versuch, den derzeitigen Präsidenten der USA politisch einzuschätzen, ist ein waghalsiges Unterfangen. Wer ihn einen Rassisten nennt oder frauenfeindlich, wird spontan Zustimmung finden, doch diese Vorwürfe sind weder besonders originell noch treffen sie den Kern einer, zurückhaltend formuliert, ungewöhnlichen Präsidentschaft. Von WOLF SENFF

Pannen, Fehleinschätzungen

Gesellschaft | Medea Benjamin: Drohnen-Krieg Einleitend schildert die Autorin den Widerspruch, den unsere neuesten Technologien allesamt präsentieren: Sie verheißen Präzision und bleiben leere Versprechung, weil sie in der Realität weit mehr schaden als nutzen. Das reicht heutzutage bekanntlich von der »Kernenergie« – wer hat sich nur dieses Wort einfallen lassen – bis zu Diagnosemethoden bei Prostata oder zur Mammographie. Von WOLF SENFF

Seriös und nachdenklich

Gesellschaft | Carlo Masala: Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens Wir lesen eine pragmatische Bestandsaufnahme, die zum geeigneten Zeitpunkt erscheint und mit propagandistischen, ideologischen und einfach nur irreführenden Beschreibungen reinen Tisch macht. Carlo Masala, der Internationale Politik an der Bundeswehrhochschule lehrt, legt eine nüchterne und ernüchternde Darstellung vor, die auch in ihren Erwartungen für die Zukunft viel Plausibilität hat. Von WOLF SENFF

Demokratienachhilfe

Sachbuch | Gregor Hackmack: Demokratie einfach machen

Nur verschwindend geringe 16 Prozent der Bevölkerung hatten im Jahr 2013 Vertrauen in die politischen Parteien. Weniger als jeder fünfte Bürger also. Vier nicht, einer vielleicht. Seitdem dürfte es nicht besser geworden sein. Die etablierten Parteien und ihre Akteure (Politiker) haben ein Vertrauens- und Akzeptanzproblem. Die Gründe dafür präsentiert Gregor Hackmack in seinem Buch ›Demokratie einfach machen‹ sehr pointiert auf etwas mehr als 130 Seiten. Von BASTIAN BUCHTALECK

Philosophie als Lebenskunst

Gesellschaft | Gerhard Ernst (Hg.): Philosophie als Lebenskunst ›O selig dreimal, wer in Darmes Tiefen blickt! Wie leicht entgeht er vor Gericht den Gläubigern, Wer so der Schnacke Darmkanal ergründet hat!‹ So ruft Strepsiades in Aristophanes Komödie ›Die Wolken‹ aus. Der alte Bauer hat Geldprobleme, die Frau suhlt sich im Luxus, der Sohn interessiert sich mehr für teure Pferde als für den Erhalt des väterlichen Vermögens. Alles in allem eine Situation, die im 4. Jahrhundert vor Christi genauso vertraut ist wie heute. Von JULIAN KÖCK