Ärztin in Not

Roman | Kristof Magnusson: Arztroman

Endlich mal ein Motto von Heidi Klum! Ihr »Nein!« hat Kristof Magnusson – neben einem Albert-Schweitzer-Zitat, damit die erste Seite nicht komplett ins Triviale abrutscht – seinem Arztroman vorangestellt. Nachdem uns der Mann mit den isländischen Wurzeln in seinem letzten Buch hochamüsant die weltweite Finanzkrise nahegebracht hat (Das war ich nicht, Kunstmann 2010), kümmert er sich diesmal – erzählerisch nicht weniger elegant und mindestens genauso sorgfältig recherchiert – um die Krisenfälle im menschlichen Alltag einer Berliner Ärztin. Von DIETMAR JACOBSEN

MagnussonAnita Cornelius – Anfang 40, geschieden, ein 14-jähriger Sohn – arbeitet als Notärztin in Berlin. Pressiert es irgendwo in der großen Stadt, zieht sie sich ihre orangefarbene »Funktionsjacke« an, besteigt neben Maik, ihrem Fahrer, Helfer und Vertrauten, das Notarzt-Einsatzfahrzeug (NEF) und macht sich auf um zu helfen. Verkehrsunfälle, Herzinfarkte, schwere Stürze, ja selbst ein notwendiger, bisher von ihr aber nur an Plastikmodellen und einer Leiche geübter Luftröhrenschnitt – Anita tut, was sie tun muss, um Leben zu retten. Unaufgeregt, höflich – bestimmt, immer kontrolliert und äußerst professionell.

Nur dem eigenen Leben gegenüber fehlt ihr diese zupackende Sicherheit. Hier muss sie eine gescheiterte Ehe verkraften, das sich immer schwieriger gestaltende Verhältnis zu ihrem beim Vater und dessen neuer Freundin lebenden Sohn Lukas in den Griff bekommen und ihre aktuelle Beziehung zu dem Bootsbauer Rio an gefährlichen Klippen vorübersteuern. Aus der taffen Notärztin, die ihren Beruf auch in den schwierigsten Situationen zu meistern versteht, ist privat längst eine Ärztin in Not geworden, der die Dinge zunehmend zu entgleiten beginnen.

Kein Schwarzwaldklinik-Klon

Natürlich ist Kristof Magnussons Arztroman kein Schwarzwaldklinik-Klon. Er spielt nur lustvoll mit all den Klischees, die einem einfallen, liest man seinen Titel. Und offensichtlich hat es der Autor auch darauf angelegt, seine Leser augenzwinkernd auf jene Literatursparte hinzuweisen, die sich gewöhnlich mit den (Schein-) Problemen der Götter in Weiß beschäftigt.

Alles in allem aber verpflanzt er die Krankenhaus-Postille gekonnt aus ihrem heutzutage hauptsächlich trivialen Nährboden ins Beet der ernstzunehmenden Literatur. Dass Letztere nicht nur bilden, sondern auch erfreuen will, weiß man schon seit Horaz. Und so soll dem vorliegenden Buch auch nicht angekreidet werden, dass es hier und da ein wenig zu sehr an der Oberfläche bleibt und damit in die Nähe gefährlicher, weil allzu seichter Gewässer gerät.

Hauptsächlich nämlich liefert der mit viel Milieukenntnis geschriebene Roman Einblicke in das Leben einer Frau, der das eigene Glück aus den Augen zu geraten droht, während sie sich aufopfernd um das der anderen kümmert. Darüber hinaus schafft er es, zu einer Art Bestandsaufnahme des Alltags unserer Zeit zu werden, Dinge zu thematisieren, die uns alle betreffen, umtreiben und berühren.

Da werden Überalterung der Gesellschaft und Vereinsamung angesprochen. Überforderung im Berufsleben und Selbstgerechtigkeit einer Mittelschicht, die nicht nach unten, auf die Zurückgebliebenen schaut, spielen eine Rolle. Wie wenig sie selbst die ihr am nächsten Stehenden kennt, muss Anita erfahren, als sie mit der Drogensucht ihres Ex-Mannes konfrontiert wird. Und im Kampf um die Liebe ihre Sohnes greift sie zu Mitteln, die sie bei anderen keineswegs tolerieren würde.

Bestandsaufnahme unseres Alltags

Vielleicht übertreibt es Kristof Magnusson ein wenig mit dem Fachvokabular. »Kammerflimmern bei Hinterwandinfarkt mit ST-Hebung« ist nur einer der vielen Brocken, die den in der Regel munter dahineilenden Erzählfluss ins Stocken bringen. Andererseits: Wie soll eine Notärztin im Einsatz mit ihren Kollegen und Helfern sonst sprechen?

Entschädigt für die wenigen sperrigen Passagen wird man jedenfalls immer dann, wenn ein neuer Einsatz Magnussons Heldin hinausführt in die Berliner Nacht zum nächsten menschlichen Notfall. Und das versteht dieser Autor so gut und bewegend zu erzählen, dass man am Ende, nach etwas mehr als 300 Seiten, gern noch weiter mit dabeisein würde. Gegenwartsliteratur auf diesem erzählerischen Niveau gibt es nämlich nicht so oft hierzulande.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Kristof Magnusson: Arztroman
München: Verlag Antje Kunstmann 2014
315 Seiten, 19,95 Euro

Reinschauen:
| Kristof Magnusson in TITEL-Kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Viel Lärm um nichts

Nächster Artikel

Einer der letzten großen Erzähler

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die Heiligen der Schattenbibel

Roman | Ian Rankin: Schlafende Hunde Nach seinem Intermezzo bei den Cold Case Units (Mädchengrab, 2013) ist John Rebus im neuen Roman von Ian Rankin zurück an seiner alten Wirkungsstätte. Allein rangmäßig ging es ein Stück bergab mit ihm. Als Detective Sergeant ist er plötzlich seinem einstigen Schützling Siobhan Clarke unterstellt. Doch mit der kommt er klar. Dagegen machen es ihm Dienststellenleiter Page und der von Generalstaatsanwältin Macari auf eine Gruppe von ehemaligen Polizisten angesetzte interne Ermittler Malcolm Fox erheblich schwerer. Denn Rebus war ein Teil jener verschworenen Gemeinschaft, die sich den Namen »Die Heiligen der Schattenbibel« gegeben hatte. Von

Aus der Kindheit eines Machos

Roman | Juan Pablo Villalobos: Fiesta in der Räuberhöhle Dem Verleger und Spanisch-Übersetzer Heinrich von Berenberg verdanken deutsche Leser manche erstaunliche Entdeckung aus den Randzonen weltliterarischer Wahrnehmung. So hat er z. B. das Genie Roberto Bolanos für uns entdeckt; und weil er fünf von Bolanos Büchern übersetzt hatte, war er letztes Jahr nach Mexiko zu einem Bolano-Kongress eingeladen. Auf dem Rückflug las er ein Buch, das sich ausnimmt wie ein später Seitentrieb, der aus dem Teil von den Verbrechen in Bolanos Roman 2666 hervorging. Nun legt Berenberg, in der Übersetzung von Carsten Regling, im Frühjahrsprogramm seines Verlags diesen schmalen Roman

Auf Heimatsuche

Roman │ Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt Kann es für jemanden, der nirgendwo Akzeptanz findet, der nicht weiß, wie das gesellschaftliche Bild zu dem eigenen Selbstbild passt, der zu selbstreflektiert ist, um sich unter eine Maske zu begeben, möglich sein, eine Heimat zu finden? Diesen Fragen geht Olga Grjasnowa in ›Der Russe ist einer, der Birken liebt‹ nach. 2012 veröffentlichte die heute 31-Jährige ihren Debütroman und greift Themen auf, die an Aktualität keinen Deut verloren haben. TOBIAS KISLING über ein außergewöhnliches und deprimierendes Werk eines literarischen Nachwuchstalents.

Demokratie im Härtetest

Roman | Horst Eckert: Die Macht der Wölfe

Zum vierten Mal arbeitet Melia Adan, deren Chancen, Düsseldorfs nächste Kripochefin zu werden, gerade nicht schlecht stehen, mit Hauptkommissar Vincent Veih zusammen. Und erneut geht es um sehr viel. Während Vincent nämlich der Fund von Leichenteilen auf einer Großbaustelle im Stadtzentrum in Trab hält, ist Melia im geheimen Auftrag der Bundeskanzlerin, die von ihrem eigenen Staatssekretär erpresst wird, unterwegs. Dass das eine mit dem anderen zu tun hat, ahnt bereits, wer die ersten drei Bände der Veih-Adan-Reihe des Düsseldorfer Autors Horst Eckert gelesen hat. Und der bietet auch in dem unter dem Titel Die Macht der Wölfe erschienenen neuen Abenteuer des sympathischen Ermittlerpaars, das nun auch privat zusammen ist, Politthrill vom Feinsten und viele Anspielungen auf die aktuelle Situation hierzulande. Von DIETMAR JACOBSEN