Werden, was man sein soll

Kinderbuch | Allen Williams: Im Dunkel der Hexenküche

In einem Menschen steckt vieles, das man nicht auf den ersten Blick erkennt. Manchmal weiß man nicht einmal selbst, welche Seiten man noch entfalten kann. Andere dagegen wären gern anders, wissen aber nicht, wie sie sich ändern können. Der Aufenthalt in einer Hexenküche kann solche Fragen klären, behauptet Allen Williams in seiner furchterregend düsteren Geschichte. Von MAGALI HEISSLER

HexenkuecheWer glaubt, dass Küchen gemütliche Orte seien, wird schon auf der ersten Seite des Buchs eines Besseren belehrt. Diese Küche ist so angefüllt mit Magie, dass Chaos herrscht. Das ist hochgefährlich für alle, die sich in der Küche aufhalten. Die meisten von ihnen tun es nicht freiwillig, manche sind schon so lange hier eingesperrt, dass sie selbst gefährlich geworden sind. In der Küche ist es fast völlig dunkel. Wenn etwas leuchtet, funkelt oder brennt, ist höchste Vorsicht geboten, das Licht könnte das Letzte sein, das man sieht, ehe Zähne, Klauen oder ein böser Zauber über eine herfallen.

Kröte, Hauptfigur und Heldin der Geschichte, erfährt das am eigenen Leib. Zwei Hexen, die glauben, dass sie über die Küche herrschen, wollen sie in ihre grüne Hexensuppe befördern. Im letzten Augenblick kommt Kröte davon, doch nur, um in der nächsten Patsche zu landen, im Nest eines Nadelraff. Klar, dass sie gerettet wird – aber damit fängt das Abenteuer erst richtig an. Sie hat keine Ahnung, wer sie ist und wie sie in diese entsetzliche Küche gekommen ist. Allerdings ist das erst einmal zweitrangig, denn die Hexen sind immer noch hinter ihr her. Das größte Problem ist es also, aus der Küche herauszukommen. Wie soll eine Kröte meistern, was Trolle, Feen und Gnome noch nie geschafft haben?

Bizarre Wesen, groteske Welt

Allen Williams ist Zeichner, Maler, Illustrator, er macht auch Filme, das merkt man seiner Welt an. Die Küche, deren Boden, Wände und Möblierung in ständiger Bewegung sind, ihre Bewohnerinnen und Bewohner, die Anklänge haben an Bosch und Goya haben mit ihren seltsamen Gliedmaßen, asymmetrischen Augen, Scherengreifern, Stechschnäbeln, Peitschenkörpern und Giftmäulern. Man fragt sich bald, ob sie Ergebnisse misslungener Zauberei der beiden Hexen sind oder von den in der Küche frei wirbelnden magischen Strömungen geschaffen wurden. Eine Antwort gibt es nicht, die Küche soll Angst erregen und das tut sie unbedingt.

Das gilt auch für die Wesen, die klassischen Fantasy-Szenarien entstammen, Trolle, Gnome, eine Fee mit tödlichen Schwertern. Großartig sind die Hexenschwestern Emilina und Sarafina, in einer klebrigen Hassliebe verbunden und zusammengeschweißt von dem einzigen Wunsch, die größte magische Macht an sich zu binden. Ihre Streitereien und ihr Konkurrenzkampf machen sie doppelt gefährlich für Kröte und alle anderen, die ihnen in die Quere kommen. Von ihnen zu lesen ist furchterregend.

In Williams‘ grotesker Welt kann man sich auf nichts verlassen, man kann nur wagen. Das ist eine recht tiefgreifende Botschaft für ein Kinderbuch. Es geht hier also um mehr als ein weiteres gruseliges Abenteuer, mit dem man sich vergnügt, um es bald zu vergessen.

Der Kampf um Selbstbestimmung

An den beiden Hexen wie auch an Krötes Verbündeten, die sie bei ihrem unsicheren Weg durch die düstere Küche zusammensammelt, illustriert Williams immer wieder aufs Neue, dass Eigenheiten in einer stecken können, die jedes Mal aufs Neue überraschen, wenn sie hervorgerufen werden. Andere dagegen, z.B. Jack, der Gnom, hatte seinen Lebensinhalt gefunden, er wurde ihm aber brutal weggenommen. Kröte muss ihre Kraft entdecken und damit sich selbst. Die Hindernisse, die sie dafür überwinden muss, sind hoch, Schmerzen bei ihrer Überwindung mit einbegriffen. Sie sind der Preis für Selbstbestimmung. Dazu gehört auch Selbsterkenntnis, Kröte ist auf der Suche nach ihrem wahren Ich. Sie wird ihr schwer gemacht.
Jack hat den gleichen Kampf zu kämpfen, wie er geführt wird und ausgeht, gehört zu den gelungenen Überraschungen der Geschichte. Hier winken die eigentlichen Probleme des Teenagerseins, das Angehen gegen Erwartungen von außen, von Mächten, die stärker zu sein scheinen. Die Geschichte erweist sich unvermutet als Märchenfantasy mit einem denkerischen Mehrwert.

Formuliert ist das Ganze ein bisschen holprig und hin und wieder ungeschickt, die Zeichenfeder liegt dem Autor mehr als die Schreibfeder. Das liegt nicht an der Übersetzung, Gabriele Haefs liefert einen Text, der die gruseligen Effekte samt der albtraumartigen Atmosphäre der Vorlage prächtig wiedergibt. Umschlagbild und Kapitelvignetten stammen von Bernd Lehmann. Sie sind eine schöne Zugabe, aber es ist schade, dass der Verlag auf die Original-Illustrationen von Williams verzichtet hat.

Das Ende von Krötes Reise durch die Küche des Grauens ist gleichermaßen ruhig wie offen. Einige Fragen werden nicht gelöst, ob das wegen eines geplanten zweiten Bands geschah oder wegen des unterliegenden realistischen Bezugs – im Leben bleibt immer etwas offen – kann sich die Leserin aussuchen.
Aus dem Chaos jedoch entsteht nach einem gewaltigen Showdown Ordnung. Kröte hat sich gefunden und trägt gleich verantwortungsbewusst dazu bei, dass die Ordnung noch eine Weile erhalten bleibt. Merke: wer sich selbst findet, hat auch die Fähigkeit, andere glücklich zu machen.
Wenn das keine gute Botschaft ist!

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Allen Williams: Im Dunkel der Hexenküche
The Witches‘ Kitchen, 2010. Übersetzt von Gabriele Haefs
Hamburg: Carlsen 2014
205 Seiten, 16,90 Euro
Kinderbuch ab 10 Jahren

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