Kulturbuch | Thomas Fasbender: Freiheit statt Demokratie. Russlands Weg und die Illusionen des Westens
Wir folgen einem respektlosen Blick auf unser Land, auf unser Europa, und zwar in einer Zeit, in der doch »Loyalität« oder, neudeutsch, »Corporate Identity« als Filter für öffentliche Äußerungen dient. Jeder öffentliche Auftritt ist eine »Präsentation«, ein PR-gestylter Auftritt eines Produkts, einer »Ware«, sei es der neuen Veggie-Wurst, der neuen PKW-Baureihe, einer politische Partei, eines CEO, eines Amtsinhabers. Von WOLF SENFF
Nein, wir wissen das ja, es herrscht nicht heile Welt in Euroland. Nun aber tritt einer auf, der sich seit Beginn der neunziger Jahre in Moskau heimisch eingerichtet hat. Und kein Stück Sehnsucht nach Zuhause.
Unterhaltsame Vielfalt
Thomas Fasbender verfasst eine Liebeserklärung an Russland. »Man kann Moskau verbrennen, aber es ist unzerstörbar«. Wir erfahren etwas über die Umstände, die wahrhaft schrecklichen Umstände der Uraufführung von Dmitri Schostakowitschs Siebter Sinfonie, der Leningrader, am neunten August 1942 während der dreijährigen Belagerung der Stadt Leningrad bzw., wie sie wieder heißt, Petersburg.
Außerdem lesen wir über die Kiewer Rus und über russische Geschichte, über die Niederschlagung der rebellischen Dekabristen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Wir erfahren viel über Moskau, über seine Banjas und dass keine heißer eingedampft wird als die Rschewskije Bani im Norden des Stadtzentrums. Wir lernen russische Küche und ihre Geschichte kennen. ›Freiheit statt Demokratie‹ ist durchaus unterhaltsam zu lesen, es ist getragen von der Faszination einer benachbarten, kulturell anders sortierten Welt.
Wir lesen von den lebenssatten Völkern des Kaukasus, von den ›Stan‹-Staaten zwischen Asien und Europa. Moskau wird geschildert als eine Stadt auf der Höhe der Zeit, in Russland sei man »überhaupt erst dabei, Begriffe wie Ästhetik und Wahrheit vom Schutt des Kommunismus zu reinigen«.
Sind mehrere Zivilisationen möglich?
»In Russland […] staunt man nur über die Selbstsicherheit, mit der Menschen im Westen, ob in Talkshows oder am heimischen Esstisch, über Gott und die Letzten Dinge reden, über die grundfeste Überzeugung, wissen zu können, und die Gewissheit, dass in den Erkenntnissen der Wissenschaft Wahrheit liegt«. Thomas Fasbender wirft uns »intellektuellen Hochmut« vor. In Russland hätten »selbst Atheisten […] instinktiv Respekt vor dem, was anderen heilig ist«.
An die westlichen Industrienationen ist der Vorwurf gerichtet, sie nähmen »das eigene System als Fluchtpunkt allen Fortschritts« wahr, »Westen ist überall«, und seien nicht in der Lage, zu akzeptieren, dass »Zivilisationen parallel und gleichzeitig« existieren.
Inhaltliche Differenzen
Merkmal der russischen Gesellschaft sei ein Mehr an Freiheit gegenüber weniger obrigkeitsstaatlichen Ordnungsrastern. Die individuelle Wahrnehmung dieser Freiheit setze Durchsetzungsvermögen voraus, und auf diese Weise könne man in Russland höchst erfolgreich sein.
Die Unterschiede zum mitteleuropäischen Alltag sind unverkennbar, kulturelle Unterschiede, denn Fasbenders Darstellung erinnert an jene »Ellenbogengesellschaft«, die wir für unseren beruflichen und privaten Alltag ablehnen. Auch die oft demonstrativ ›männliche‹ Orientierung manch einer Episode entspricht nicht dem, was wir für unseren Alltag akzeptieren würden. Aber Vorsicht. »Wenn erwachsene Männer vor Ehrpusselei nicht mehr durchatmen können, ist es Zeit, sich aus dem Staub zu machen.« Da stimmen wir ihm doch wieder zu.
›Friedliche Koexistenz‹
Trotz aller Differenzen liest sich die Darstellung interessant, weil Thomas Fasbender uns in unaufdringlicher Weise eine andere, »alternative« Idee von zivilisiertem Zusammenleben darstellt – was wiederum nicht heißt, dass man sich die Inhalte zu eigen macht. Er beschreibt Russland als »eines der konservativsten Länder Europas« im Gegensatz zur »universalistischen, liberalen Zivilisation des Westens«.
Lesenswert ist die Darstellung auch deshalb, weil es immer wieder Brücken gab zwischen der russischen und der deutschen Nation und immer wieder den neuen Versuch, Brücken zu bauen. »Friedliche Koexistenz« hieß das einmal, und letztlich ist Politik stets gezwungen, eine Basis gegenseitigen Respekts und friedlichen Zusammenlebens verschiedener Nationen zu schaffen. Brücken inklusive.
Titelangaben
Thomas Fasbender: Freiheit statt Demokratie. Russlands Weg und die Illusionen des Westens
Waltrop und Leipzig: Edition Sonderwege 2014
362 Seiten, 19,80 Euro