Das Ende der Menschheit – leicht verdaulich

Comic | Dr.R.Pietsch, D.Boller: Die letzten Tage der Menschheit

Der deutsche Verleger, Übersetzer und Autor Reinhard Pietsch und der Schweizer Comiczeichner David Boller haben eine Adaption von Karl Kraus‘ bitterkomischem Weltkriegsdrama ›Die letzten Tage der Menschheit‹ als Graphic Novel vorgelegt. Ein ebenso eigenwilliges wie ambitioniertes Unterfangen, von dem BORIS KUNZ sich nicht komplett überzeugen ließ.

tagedermenschheit»Was hätte Karl Kraus dazu gesagt?« Laut einem kürzlich in der ›FAZ‹ erschienenen Artikel ist das wohl einer der Hauptfragen, die sich Literatur- Film- und Theaterkritiker in Deutschland stellen, ehe sie einen bösartigen Verriss über ein Werk schreiben, das ihren Ansprüchen nicht genügen konnte. Im Falle einer Adaption von Kraus‘ legendärem Theaterstück als Comic kommt man als Rezensent um diese Frage tatsächlich kaum umhin, auch wenn man nicht auf die Journalistenschule gegangen ist.

Dabei geht es überhaupt nicht darum, die leidige Kulturdebatte aufzumachen, ob man etwas literarisch so Bedeutendes und Wuchtiges überhaupt in einen Comic übersetzen darf – der Autor dieser Zeilen möchte lediglich die Frage nach dem Mehrwert dieses Unterfangens stellen. Gemessen an dem, wie erschreckend aktuell das auf seinen hundertsten Geburtstag zugehende Werk von Kraus noch immer ist, kann man ihm nicht genug Leser wünschen. Insofern ist Pietschs Ziel durchaus löblich, Kraus einem breiteren Publikum wieder näher zu bringen.

»Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen. […] Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.« (Aus dem Vorwort von Karl Kraus)

Nun handelt es sich nicht um irgendein Theaterstück, sondern um eines, das allein seiner schieren Länge wegen in seiner kompletten Form als unaufführbar gilt – und sogar von Kraus selbst einem »Marstheater« zugedacht wurde. Denn »Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten.« ›Die letzten Tage der Menschheit‹ entstand in den Jahren 1915 bis 1919 unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges, und hat keine konkrete, durchgehende Handlung, obschon es eine Reihe immer wieder auftauchender Figuren gibt. Das Stück reiht, dem Kriegsverlauf folgend, hauptsächlich satirisch überzogener Alltagsbeobachtungen aneinander, die den Weltkrieg zunächst vor allem aus der Sicht von Wiener Straßenpassanten beschreiben; in kleinen und großen Vignetten aus Cafés und Amtsstuben, schließlich aber auch immer mehr die perfiden Mechanismen der Propaganda durchleuchten, die Banalitäten der Heeresführung ebenso anklagen wie den Missbrauch der Sprache und die verhängnisvolle Zusammenarbeit zwischen Medien und Militär. Hohe Politiker und Fürstenhäuser werden ebenso aufs Korn genommen wie wichtige Journalisten und Schriftsteller, Kriegsgewinnler oder einfach nur grantelnde Kellner und Lebensmittelhändler.

So entlarvt Krauss die Phrasen der Kriegspropaganda, in dem er sie Kindern auf einem Spielplatz in den Mund legt, die im Sandkasten nachplappern was ihnen die Erwachsenen vorsagen, oder beschreibt den Kampf um die Festung Przemysl über Telefongespräche eines Generalstabsoffiziers, der einem Journalisten erklärt, wie er Sieg und Niederlage der Truppen zu erklären hat. Eine hervorstechende Negativfigur des Stückes ist »die Schalek«, eine legendäre weibliche Kriegsberichterstatterin, anhand derer Kraus schon vor beinahe 100 Jahren das Konzept des »embedded journalism« infrage gestellt hat und der Lächerlichkeit preisgibt.

Je länger das Stück fortschreitet, um so mehr Abstraktionsebenen gibt es: Da sind die langen, nicht in Mundart gehaltenen, sehr scharfzüngig und analytischen Auslassungen des »Nörglers« (ein unverhohlenes Sprachrohr für Kraus‘ eigene Meinung) im Gespräch mit dem »Optimisten«, da sind zahlreiche Gedichte und Lieder bis hin zum komplett in Versform geschriebenen, abstrakten Epilog, da ist der als apokalyptischer Bilderrausch beschriebene Höhepunkt des letzten Aktes.

Nun hat Reinhard Pietsch dieses Mammutwerk zunächst einmal drastisch gekürzt, um von beinahe 800 Seiten Theaterdialog auf unter 200 Comicseiten zu kommen. Dazu hat er eine sorgfältige Auswahl der prägnantesten Szenen getroffen und darin den teilweise sehr ausschweifenden Originaltext auf das Wesentliche reduziert. Diese Reduzierung gibt gewissen Szenen zweifellos eine größere Deutlichkeit und Prägnanz, an anderen Stellen aber nimmt sie dem Stück auch etwas von seiner Seele, wie etwa in der Abschlussszene des fünften Aktes, einem Gelage deutscher und österreichischer Offiziere, die eigentlich vom ausschweifenden Gerede der Protagonisten ebenso lebt wie von der gekonnt eingesetzten und sich steigernden Wiederholung bestimmter Motive.

Gestrichen sind viele sprach- und literaturkritische Passagen, die sich dem Verständnis heutiger Zeitgenossen ohnehin entziehen, aber auch die große, bittere und wortreiche Anklage an den Krieg und die Regierungen, die ihre Völker in diesem Krieg verheizt haben. Gestrichen ist natürlich die aus heutiger Sicht umstrittene Kritik an den Juden, gestrichen aber auch das große Pathos: Von den zahlreichen, teilweise sehr ausführlichen und sehr scharfen Dialogsequenzen zwischen dem Optimisten und dem Nörgler sind im Comic nur die Wenigsten geblieben.

01_Kraus_Messe-6Pietsch konzentriert sich mehr auf die satirischen und situativen Szenen, die dem Volk und den Generälen direkt aufs Maul schauen, auf die grotesken Alltagsbeobachtungen, die so absurd anmuten, dass sie den Eindruck erwecken, vermutlich gar nicht ausgedacht zu sein. Damit betont der Comic ganz bewusst eine der großen Stärken der Vorlage, reduziert das vielschichtige Werk aber auch im Wesentlichen auf eine Stimmlage. Die Brutalität der Schlachtfelder, die Kraus in seinem Stück gegen Ende mit voller Wucht aufs Tapet gebracht hat, ist in diesem Comic fast gänzlich ausgespart, die Brutalität von als Patriotismus getarnter Bösartigkeit ist geblieben. Auch gelingt es Pietsch in der Auswahl der Szenen durchaus, der Adaption eine aktuelle Relevanz zu verleihen, sodass man das Stück nicht nur als historische Abhandlung liest.

»Der Humor ist nur der Selbstvorwurf eines, der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge bestanden zu haben. Außer ihm, der die Schmach solchen Anteils einer Nachwelt preisgibt, hat kein anderer ein Recht auf diesen Humor. Die Mitwelt, die geduldet hat, dass diese Dinge geschehen, die hier aufgeschrieben sind, stelle das Recht, zu lachen, hinter die Pflicht, zu weinen.«

Als Zeichner hat Pietsch für sein Projekt eine Ausnahmeerscheinung der Comicszene gewinnen können: Den Schweizer David Boller, der eine Zeit lang in den USA gelernt und dort für die üblichen Verdächtigen Superheldenstorys gezeichnet hat, der inzwischen wieder in die Schweiz zurückgekehrt ist und dort seinen eigenen Verlag Virtual Graphics ins Leben gerufen hat, der ein sehr eigenwilliges Programm anbietet: Da stehen Graphic Novels, die sich mit Themen wie Scientology beschäftigen, direkt neben Bollers leicht trashiger Adaption von Wilhelm Tell als futuristischem Schweizer Superheldencomic nach amerikanischem Vorbild.

Für ›Die letzten Tage der Menschheit‹ hat Boller seinen von Superhelden geprägten Stil sehr heruntergefahren und auf sehr einfache Zeichnungen reduziert, die zwar im Dekor und den Kostümen Authentizität vermitteln, allerdings in seinem sehr rohen, fast skizzenhaften Zustand belassen sind, als wollten sie sich bewusst jegliches Eye-Candy verbieten. Pietsch betonte im Interview mit dem ZDF, er habe nach einem Zeichner gesucht, der sich dem Originaltext »demütig unterordnen« konnte. Leider wirkt das, um es einmal in kraus’scher Boshaftigkeit überspitzt zu formulieren, wie gewollt und nicht gekonnt.

Würde man Bollers grafische Inszenierung auf eine Theaterbühne übersetzen, so könnte man sie nur als uninspiriert bezeichnen: Bühnenbild und Kostüme zeigen 1:1 genau das, was man erwartet, verweigern sich aber auf der anderen Seite jeder Opulenz. Die Kostüme sind historisch passend, das Bühnenbild zeigt genau die beschriebenen Schauplätze, aber die Kulissen sind billiger Pressspan, ohne Liebe zum Detail, ohne Einfallsreichtum bemalt. Darin agieren ausdruckslose Schauspieler, die den brillanten und lebensnahen Dialog mit steifen Gesten und erhobenen Zeigefingern unterstreichen.

Bollers Zeichnungen sind eine Kapitulation vor jedweder Interpretation, als hätte er sich eine eigene künstlerische Vision angesichts der überwältigenden Vorlage nicht mehr zugetraut: Weder wagt er, die Wiener Straßenszenen oder die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges in einer Ausstattungsorgie auszuschlachten, noch hat er den Mut zur Abstraktion oder Neuinterpretation. Noch dazu fehlt es ihm an Ehrgeiz, den agierenden Figuren Lebendigkeit, Fleischlichkeit und Persönlichkeit zu verleihen, die sich jenseits ihrer Sprechblasen abspielt. Die Zeichnungen sind weder abstrakt noch naturalistisch, weder lebendig noch überzogen, und so überrascht es auch nicht, was für einen Hintergrund sich Pietsch und Boller überlegt haben für die abstrakten Optimist vs. Nörgler – Passagen, für die Kraus in der Vorlage keinerlei Bühnenanweisungen gegeben hat: nämlich nichts. Boller lässt den Hintergrund vollständig weg und stellt die Figuren in weiße und schwarze Flächen.

Wer David Bollers andere Werke kennt, weiß, dass der Mann mehr kann, wenn er sich mehr Mühe gibt, und dass Farbe seinen Zeichnungen gut tut. Die Reduktion des Zeichenstils wirkt aber ebenso wie der Verzicht auf Farbe in diesem Fall nicht wie ein Konzept, sondern eher so, als seien beide Entscheidungen eher aus Zeit- bzw. Budgetgründen so getroffen worden. So merkt man dem im Eigenverlag veröffentlichten Buch leider an, dass es unter dem Zeitdruck entstanden ist, rechtzeitig zum Weltkriegsjubiläum 2014 auf dem Markt zu sein.

»Denn über alle Schmach des Krieges geht die der Menschen, von ihm nichts mehr wissen zu wollen, indem sie zwar ertragen, dass er ist, aber nicht, dass er war.«

Seite_162_01Auch wenn man durchaus attestieren muss, dass amerikanisierte Soundwords wie »THWAM« neben dem kraus’schen Österreichisch auch etwas deplatziert wirken, ist das Problem dieses Comics nicht, dass er es wagt, »Hochliteratur« in Comicform zu bringen, sondern dass er damit einfach nicht weit genug geht: Die Graphic Novel wartet nicht mit einem visuellen Konzept auf, dass dem Werk eine eigenständige Ebene hinzufügt, die über zaghafte Illustration des ohnehin Beschriebenen hinausgeht. So wirkt die Lektüre des Theaterstückes wesentlich bildgewaltiger als das, was Pietsch und Boller daraus gemacht haben. Wie anders hätte es ausgesehen, hätte sich jemand vom Kaliber eines Joann Sfar, Christophe Blain oder gar Joe Sacco oder Tardi des Stückes angenommen.

Doch sind dies Wunschphantasien eines Comicliebhabers und nicht das, was Reinhard Pietsch wollte. Optisch überwältigende Kriegsdramen gibt es schließlich genügend (hier sei beispielsweise auf das herausragende Album ›Mutter Krieg‹ bei Splitter verwiesen), und die großen Satiriker und Karikaturisten unter den Comickünstlern sind ebenfalls in der Lage, ihre eigenen Szenarien zu verfassen. Pietschs Herangehensweise hat eher etwas mit der alten Comicreihe „Illustrierte Klassiker“ gemeinsam; so etwas wie eine Reader’s Digest-Ausgabe für Leser, die den Inhalt eines kulturell bedeutungsschweren Schinkens mitkriegen möchten, ohne sich durch ein 800 Seiten starkes Drama zu quälen.

Ein Glossar informiert zusätzlich über die Hintergründe und macht die Lektüre auch ohne ein Geschichtsstudium verständlich. Der Comic ›Die letzten Tage der Menschheit‹ ist eine vergleichsweise (!) leicht verdaulich aufbereitete Zusammenfassung der besten Szenen, die man schnell gelesen hat, und die den wesentlichen Inhalt des Originals zwar vermittelt, das Leseerlebnis aber nicht nur um einige Längen, sondern auch um einige Nuancen reduziert. Das aber tut der Qualität der Szenen und Dialoge keinen Abbruch und macht das Werk trotz aller Nörgeleien des Autors dieser Zeilen noch immer zu einer lohnenswerten Lektüre. Den Comic zu lesen ist also sicherlich besser, als das Stück überhaupt nicht zu kennen, auch wenn er die Erfahrung des Originals niemals ersetzen kann.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Dr. Reinhard Pietsch (Text nach Karl Kraus), David Boller (Zeichnungen): Die letzten Tage der Menschheit
Eine Graphic Novel nach Karl Kraus
München: medienpartner.münchen / Utz 2014
200 Seiten, 20 Euro

Reinschauen
| Leseprobe
| Über das Original
| Interview mit Reinhard Pietsch
| David Boller bei Virtual Graphics
| Mutter Krieg bei Splitter

Weitere Besprechungen zum Thema Erster Weltkrieg
| Der neugierige Defätist – Im TITEL kulturmagazin
| Gezeichnete Soldatendenkmäler – Im TITEL kulturmagazin
| Von wackeren Herzen – Im TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Von wackeren Herzen

Nächster Artikel

Folkdays aren’t over… Sinnika Langeland

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Im grünen Bereich

Comic | Zeichnerin Frauke Berger im TITEL-Interview Auch in dem immer bunter und größer werdenden Programm des Splitter Verlages wirkt ›Grün‹ wie eine kleine Ausnahmeerscheinung: Ein Erstlingswerk einer jungen deutschen Zeichnerin, das sich klar zum Fantasy-Genre bekennt, aber nicht martialisch und düster daherkommt, sondern verspielt und eigenwillig. BORIS KUNZ hat sich auf dem Comicsalon mit Frauke Berger über die Entstehung ihres Debütalbums unterhalten.

Diesseits und jenseits der Linie zwischen Leben und Tod

Comic | Laurent-Frédéric Bollée / Christian Rossi: Deadline Ein klassischer Western-Comic in leuchtenden Farben, angereichert mit Drama und Poesie: ›Deadline‹ überschreitet vielleicht keine Gattungsgrenzen, ignoriert aber gängige Genrecodes. Von CHRISTIAN NEUBERT

Kalter Krieger, Teufels Maul

Comic |Francois Boucq / Jerome Charyn: Teufelsmaul Beim Splitter Verlag ist mit der dritten Comic-Zusammenkunft von Zeichner Boucq und Autor Jerome Chary ein Klassiker neu erhältlich: Der Spionagethriller ›Teufelsmaul‹. Gelesen von CHRISTIAN NEUBERT

Auf der Reeperbahn, Nachkrieg, halbwüchsig

Comic | Isabel Kreitz: Rohrkrepierer Mit ›Rohrkrepierer‹ adaptierte Isabel Kreitz den gleichnamigen, im Hamburg der Nachkriegszeit angesiedelten Roman von Konrad Lorenz als Comic – und legt damit ein weiteres Zeugnis ab, wie gut sie es versteht, authentische Eindrücke und lebendige Figuren zu schaffen. Von CHRISTIAN NEUBERT

Alan Moore im Ausverkauf

Comics | Before Watchmen / Fashion Beast Die Before Watchmen Reihe, die viel diskutierten Prequels des Comic-Meilensteins von Alan Moore und Dave Gibbons, haben mit mittlerweile vier von acht Bänden in Deutschland Halbzeit erreicht. Anlass genug für BORIS KUNZ, unter die Lupe zu nehmen, ob die neuen Abenteuer der Watchmen die ganze Aufregung wert sind – und eine Alternative für diejenigen vorzuschlagen, die gerne noch mehr von dem guten, alten Alan-Moore-Zeug lesen würden.