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Vom Leben in der Stadt

Gesellschaft | Niels Boeing: Von Wegen. Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft

Die kapitalistische Stadt ist eine Stadt der Privilegien, die neue Stadt aber wäre, von Privilegien befreit, eine Stadt der Freiheit. Es ist schön, Alternativen vor Augen zu führen. Das öffnet den Blick auf diese reichlich dunklen, morbiden Zeiten, die alles darum geben, dass ja nur das Elend mittels Frohsinn und Party verkleidet bleibe. Niels Boeing richtet den Blick nach vorn, und seine Perspektive ist spannend. Von WOLF SENFF

CC_Boeing_WegeEr trägt sehr viel zusammen und stellt wie selbstverständlich Zusammenhänge her, so den Konkurs der Stadt New York im Jahr 1975, der in einen »Putsch der Finanzinstitute gegen die demokratisch gewählte Regierung von New York City« mündete; denn die Banken stellten für die Gewährung weiterer Kredite als Bedingung, dass Löhne eingefroren wurden und Ausgaben für Bildung, Nahverkehr und Gesundheitsdienste gekürzt. Das ist mittlerweile ein alter Hut, es hat sich unter dem Namen Austeritätspolitik ›eingebürgert‹.

Sozialer Wohnungsbau war gestern

Generell ist Niels Boeing zufolge nicht erkennbar, dass Kommunalpolitik die Lebensbedingungen in den Städten und Gemeinden verbessert hätte. Schon mit der Aufhebung der Mietpreisbindung 1963, die sich nicht auf Sozialwohnungen erstreckte, entsteht ein »freier« Wohnungsmarkt, die Mieten steigen innerhalb weniger Jahre um bis zu hundertzwanzig Prozent, der Bestand an Sozialwohnungen sei von einst im Westen vier Millionen plus dreieinhalb Millionen im Osten auf im Jahr 2010 gesamt nur noch 1,66 Millionen reduziert worden. Nein, kein Fauxpas, keineswegs, sondern politisch gewollt als Abschied vom Sozialstaat.

Heute, in Zeiten eines anhaltenden Zuzugs in die großen Städte, sei der Wohnungsbau vom Zwang zur Kapitalakkumulation beherrscht, vulgo: Niemand bremse die Kostenspirale. Gaben die Haushalte im Jahr 1963 noch 15,3 Prozent ihres Einkommens für Wohnkosten aus, waren es 2012 bereits 34,5 Prozent. Hamburg – die Stadt, auf die sich Niels Boeing vor allem bezieht – bilde trotz der wohlklingenden Versprechen des Senats keine Ausnahme, auch hier sinke die Zahl der günstigen Wohnungen kontinuierlich weiter, denn es würden Jahr für Jahr mehr Sozialwohnungen aus dem Bestand fallen als neu gebaut würden.

Widerständige Konzepte

Niels Boeing bricht die Theorie stets gleich auf den Alltag herunter. Der Zwang zur Kapitalakkumulation sei unlösbar an den Eigentumsbegriff geknüpft, und da verweist Boeing auf real effektive Handlungsmöglichkeiten; muss nicht gleich so handfest sein wie das autonome Zentrum ›Rote Flora‹, das die Eigentumsverhältnisse kühl bzw. mit heißem Blut ignoriert und sich auf eine breite Unterstützerszene verlässt.

Er erwähnt die Bewegung der ›Commons‹, die auf eine Renaissance des Allmende-Konzepts setzt, auf gemeinschaftlich genutzten Besitz ohne Eigentumstitel. Er erwähnt die aktuelle Idee ›revolvierender Fonds‹ aus Salzburg und das Hamburger Projekt eines Mietshäuser-Syndikats; der unbefangene Leser fragt sich, weshalb Politik, die sich bei jeder Gelegenheit gern mit ihrer Bürgernähe großtut, diese Ideen nicht aufgreift.

Ein anderes Thema

Auch im Herstellen von Gegenständen – ›Fab Lab St. Pauli‹ – und im Anbau von Obst, Gemüse, Früchten sieht er eine kraftvolle Perspektive, den neoliberalen Status quo zu unterlaufen und städtisches Leben neu zu definieren.

Niels Boeings Anmerkungen zur ›Flüchtlings‹politik sind wenig pragmatisch, wobei sich hier wie dort offenbar Sprachregelungen von ›political correctness‹ etablieren. Der bloße Appell, dass »die Stadt des Nordens […] jeden Neuankömmling aus dem Süden willkommen heißen« sollte, löst keine Begleitumstände der Integration; das Schanzenviertel hat mit Migranten aus Rumänien diverse eigene Erfahrungen gesammelt.

Das Prinzip allgemeiner Selbstverwaltung

Davon abgesehen, bleibt eh verwunderlich, dass im ›öffentlichen Diskurs‹, wo immer der sein Dasein fristet, nirgends gefordert wird, endlich die unsäglichen kriegerischen Aktivitäten einzustellen und in Europa eine Politik sozialen Ausgleichs einzuleiten, aber die hiesige Presse tritt geostrategisch entschieden einheitlich und vorsortiert auf.

Niels Boeing beschreibt in den letzten Abschnitten Stand und Möglichkeiten alternativer städtischer Initiativen, er warnt vor gewalttätigen Aktionen, verweist auf die Besetzung des Hamburger Gängeviertels »ohne klassische militante Aktionen« und zeigt sich als ein an den Prinzipien des Situationismus orientierter Aktivist. Wohnungsbau und -politik sind, so Boeing, Grundlage für das Wohlbefinden der Einwohner, in der freien Stadt der Zukunft sind sie Gegenstand allgemeiner Selbstverwaltung, »Privateigentum an Grund und Boden ist Geschichte«.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Niels Boeing: Von Wegen. Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft
Hamburg: Edition Nautilus, 2015
158 Seiten, 14,90 Euro
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