Das große Abenteuer

Comic | Emmanuel Lepage, Francois Lepage: Weiß wie der Mond

Mit ›Weiß wie der Mond‹ legt Emmanuel Lepage eine weitere beeindruckende Reisereportage vor, die an seine berühmte ›Reise zum Kerguelen-Archipel‹ anknüpft. Sein Bruder Francois war diesmal mit ihm unterwegs und steuert dem Buch nicht nur seine Fotos sondern auch sich selbst als Protagonisten einer sehr persönlichen Erzählung bei. BORIS KUNZ fühlt sich nach der Lektüre um einige nicht gemachte Erfahrungen reicher.

WeisswiederMondEmmanuel Lepage hat schon ein paar extreme Reiseziele hinter sich: Die abgeschiedenen Kerguelen im Indischen Ozean und die Sperrzone rund um den Unfallreaktor von Tschernobyl. Doch mit dem antarktischen Kontinent wird er einen Ort betreten, an dem die Temperaturen auch im Sommer zwischen -30 und -40° Celsius betragen, an dem es keine Tiere mehr gibt, keine Pflanzen und keine Landschaften, von Schneeverwehungen einmal abgesehen. Diesen Bedingungen trotzt eigentlich nur noch menschlicher Forschergeist. So überwintern jedes Jahr Wissenschaftler und Techniker auf der französisch-italienischen Basis Concordia, 1.200 km von der antarktischen Küste entfernt, im Herzen des ewigen Eises. Die Versorgung findet durch sog. Raids statt; das sind Konvois aus Planierraupen und gewaltigen Traktoren, beladen mit Vorräten, Dieseltanks und Wohncontainern. An diesem Raid als Fahrer teilzunehmen (reine Passagiere können aus Platzmangel nicht mitkommen) soll der Höhepunkt der Reise der Lepage-Brüder werden, eines der letzten großen Abenteuer durch die letzte Terra Incognita.

Raiders of the lost adventure

Das Versorgungschiff Astrolabe soll Emmanuel Lepage und seinen Bruder von Tasmanien aus zunächst nach Dumont d´Urville bringen, einer Basis an der Küste des Französischen Sektors der Antarktis. Dort soll Lepage, einer Einladung des Französischen Polarinstitutes folgend, das Leben und die Forschungsarbeit der Basis dokumentieren, anschließend an einer Forschungsmission per Schiff teilnehmen und zum Abschluss mit dem Raid nach Concordia fahren, wo sie dann von einem Flugzeug abgeholt werden sollen. Doch die Dinge laufen nicht so, wie geplant. Durch ein ungewöhnlich starkes Aufkommen an Packeis bleibt die Astrolabe mehrmals stecken und bringt damit die filigrane Koordinierung der unterschiedlichen Versorgungs- und Forschungsreisen durcheinander, denn an einem lebensfeindlichen Ort wie diesem muss genau überlegt sein, wer wann mit welchem Schiff, Konvoi oder Flugzeug wohin reist, um nicht über den Winter irgendwo an einem Ort im Eis festzusitzen, von dem aus man monatelang nicht mehr evakuiert werden kann. Immer wieder steht es in Frage, ob Emmanuel und Francois rechtzeitig kommen werden, um den Raid noch mitzuerleben. Ständig müssen neue Entscheidungen gefällt werden.

Lepage hat schon immer seine persönliche Sicht der Dinge, seine Erlebnisse, Gefühle und Gedanken ebenso zum Gegenstand seiner gezeichneten Reportagen gemacht wie die dazugehörigen äußeren Umstände. Sein großer Wunsch, als Fahrer des Raids aktiver Teilnehmer an einem großen Abenteuer statt »nur« ein Zeichner am Rande des Geschehens zu sein, wird zum dramaturgischen Motor der gesamten Erzählung. So abstrakt dieser Wunsch einem vielleicht vorkommen mag: Lepage kann seine Sehnsucht nach dem Raid so glaubhaft vermitteln, dass man als Leser mitfiebert, ob das Schicksal ihm sein großes Abenteuer gönnen wird, oder ob auch seine Polarexpedition wie die von Robert Scott oder Ernest Shakleton die Geschichte eines grandiosen Scheiterns sein wird.

Ein weiteres Mal erweist sich Emmanuel Lepage in diesem Album als hervorragender Erzähler und fesselt den Leser mit all den Zutaten, die man aus seinen früheren Reportagen bereits kennt: Mit einem warmherzigen, persönlichen Blick auf das Alltagsleben junger Naturforscher, mit locker eingestreutem Geographieunterricht, mit spannenden Episoden aus dem Leben berühmter Pioniere und Abenteurer, und natürlich mit atemberaubend schönen Zeichnungen in allen Farben, Formen und Größen – wobei diesmal nicht mehr so viele Original-Skizzen von der Reise eingestreut sind. Der größte Teil der Reise wird in monochromen Bildern nacherzählt, die immer wieder von beeindruckenden Panoramen des Packeises unterbrochen werden. Mit einer großen Detailfülle und dem Erzählduktus eines Reisetagebuches schafft es Lepage, dem Leser ein äußerst lebendiges Gefühl von der ganzen Fahrt zu vermitteln – und dessen Reiselust derart zu wecken, dass der dringende Wunsch, auf dem Raid mitzufahren, auch der des Lesers wird.

Schwierige Symbiose

Als neues Element kommen die Fotos von Francois Lepage dazu, der auch als Co-Autor des Buches genannt wird. Allerdings ist der Anteil an Fotografien in dem Buch erheblich geringer als der Anteil an Zeichnungen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass es letztendlich leichter ist, mehrere beeindruckende Zeichnungen von Eisschollen, als mehrere ebenso beeindruckende Fotos von Eisschollen zu machen. Vielleicht, weil Zeichnungen einen subjektiv empfundenen Eindruck leichter wiedergeben können, vielleicht auch, weil das menschliche Auge an einer Zeichnung den Naturalismus bewundert, während es von Fotografien spektakulärere Inhalte erwartet, um ihnen die gleiche Existenzberechtigung in so einem prächtigen Bildband zuzubilligen. Die Fotos wirken oftmals wie eine Art Reality-Check, der die Erzählung zwar erdet, aber schnell unangebracht wirken kann – als ob die vermeintlich objektive Referenz, wie es »wirklich aussah« die Magie der Zeichnungen irgendwie zerstören könnte. Die Symbiose von Fotografie und Zeichnung wird also sehr behutsam eingeführt und vorbereitet bis sie dann gegen Ende des Buches auch tatsächlich funktioniert.

Hinzu kommt, dass das Buch nicht ausspart, dass es im Verhältnis der beiden Brüder auch heikle Themen gibt. Ausgerechnet ein gewisser Konkurrenzdruck zwischen dem inzwischen recht berühmten und höchst versierten Zeichner Emmanuel und dem als Fotografen weit weniger bekannten Francois ist ein solches Thema. Auch Auszüge von Francois´ Reisekorrespondenz mit seiner Verlobten thematisieren seine Selbstfindung als Künstler, seine Schwierigkeiten, die richtige Bildsprache zu finden, während sein Bruder beim Zeichnen eigentlich nur mit Seekrankheit und Wetter noch ernsthaft zu kämpfen hat. Dass auch das dabei entstandene Gesamtwerk eher dem Zeichner als dem Fotografen zur Ehre gereicht, gibt der Lektüre einen seltsamen Beigeschmack. Man fragt sich, ob man den Autoren nicht fast ein wenig zu nahe gekommen ist.

Trotzdem: Wer bei einem in unserer Zeit einmaligen Abenteuer dabei gewesen sein will, der hat nun dank Lepage zwei Möglichkeiten statt nur einer: Er kann den Umgang mit der Schneeraupe lernen und sich beim Polarinstitut als Fahrer für den nächsten großen Raid bewerben – oder er kann sich dieses fesselnde Comicalbum besorgen.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Emmanuel Lepage (Text und Zeichnungen), Francois Lepage (Text und Fotografien): Weiß wie der Mond
(La Lune est Blanche)
Aus dem Französischen von Tanja Krämling
Bielefeld: Splitter Verlag 2015
256 Seiten, 39,80 Euro
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Reinschauen
| Homepage von Francois Lepage
| Über das Werk von Emmanuel Lepage

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