Melancholischer Brückenbauer

Roman | Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir

»Mit großem Aufwand versuchte ich der moralischen Pflicht nachzukommen, Mevluts Menschlichkeit auf 600 Seiten auszubreiten und ihn als vielschichtigen Menschen zu zeigen – und das, ohne auf die Tränendrüse zu drücken«, bekannte der Literatur-Nobelpreisträger von 2006, Orhan Pamuk, über die Hauptfigur seines neuen Romans Diese Fremdheit in mir. – Gelesen von PETER MOHR

978-3-446-25058-1 Pamuk - FremdheitEs ist alles etwas anders als in den Vorgängerwerken. Pamuk erzählt zwar nach wie vor sehr ausschweifend, aber zwischen den Zeilen klingt eine zuvor nicht gekannte Gelassenheit an. Und mit der Mevlut-Karatas-Figur hat er sich auch einem völlig neuen Typus des Protagonisten gewidmet. Zum ersten Mal steht ein einfacher Mann aus ärmlichen Kreisen im Zentrum eines Pamuk-Romans.

»Abenteuer und Träume von Mevlut Karatas, einem Boza-Verkäufer, und seiner Freunde, zugleich ein Porträt des Lebens in Istanbul von 1969 bis 2012 aus vielen verschiedenen Perspektiven«. So hat der 63-jährige Orhan Pamuk sein neues Epos im Untertitel genannt. Mevlut, der einst seinem Vater aus der anatolischen Provinz nach Istanbul folgte, hat sich in ganz jungen Jahren in eine Schönheit namens Samiha aus dem Nachbardorf verguckt. Er schreibt ihr glühende Liebesbriefe, die unbeantwortet bleiben. Der in seinem weiteren Lebensweg eher zu Passivität und Antriebslosigkeit neigende Mevlut fasst sich als Jüngling ein Herz und entführt die Angebetete mit Hilfe eines Neffen nach Istanbul. Zumindest glaubt er dies. Aber tatsächlich ist es deren ältere Schwester Rayiha.

Diese Episode trägt humoristische Züge eines Schelmenromans, wenn sich Mevlut mit dem »Faux pas« ganz schnell arrangiert, die »Falsche« dann heiratet und mit ihr später die beiden Töchter Fatma und Fevziyes hat. Nach Rayihas frühem Tod zieht er später doch noch mit der ungleich attraktiveren Samiha zusammen.

»Istanbuls Schicksal ist mein Schicksal. Ich fühle mich dieser Stadt verbunden, weil sie mich zu dem gemacht hat, der ich bin«, hat Pamuk vor einigen Jahren erklärt. So liest sich Mevluts eigentlich wenig aufregender Lebensweg auch als große Geschichte des Wandels der Bosporus-Metropole, deren Einwohnerzahl sich im Laufe der Handlungszeit des Romans beinahe verzehnfacht hat. Die Einflüsse der westlichen Welt nehmen Überhand, das Streben nach materiellem Wohlstand, die Protzerei und die Zurschaustellung des eigenen Reichtums kennzeichnen demnach das neue, von Pamuk nicht mehr so innig geliebte Istanbul.

Melancholisch und nostalgisch lesen sich daher weite Strecken des Romans, in denen Joghurtverkäufer noch durch Istanbuls Straßen ziehen, mit schweren Lasten auf den Schultern. Die Hausbewohner lassen, wegen der noch fehlenden Aufzüge in den Altbauten, aus den Fenstern Taschen und Körbe hinab, und so wandert die Ware samt des Geldes vom Händler zum Käufer.

Mevlut selbst zieht viele Jahre als Boza-Verkäufer durch die Straßen der Metropole. Dieses leicht alkoholische Hirsebier gewinnt in Pamuks Roman symbolischen Charakter, denn es steht einerseits für Tradition und diente als Bindeglied zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und andererseits unterstreicht die später sinkende Nachfrage auch den gesellschaftlichen Wandel. Mevlut stellt seinen »Bauchladen« um, bietet Joghurt, Eis und Hähnchen an. Am Ende gewinnt er dann noch seltsame Einblicke hinter die Fassaden Istanbuls durch seinen neuen Job als Stromableser. Täglich wird er dabei mit Täuschungen und Betrug konfrontiert.

Mevluts Gedankenwelt wirkt (trotz Pamuks inszenierter Verflechtung mit 40 Jahren jüngerer türkischer Geschichte) mit fortschreitender Lektüre eintönig und ermüdend, seine Gutmütigkeit erschreckend aufgesetzt.

Immer nimmt der politisch desinteressierte, relativ ungebildete Mevlut auch eine Opferrolle ein. Er wird überfallen und ausgeraubt, fast demütig ergibt er sich dem harten Alltag, von dessen Unveränderbarkeit er überzeugt zu sein scheint. Das liest sich ein wenig wie Unterschichts-Romantik mit versöhnlichem, ja sogar leicht kitschigem Anstrich – vor allem als ihm die Töchter dazu raten, die Liaison mit der Tante einzugehen.

Zu alter Form läuft Pamuk dagegen auf, wenn er sich erzählerisch etwas aus Mevluts unmittelbarem Dunstkreis entfernt und sich anderen Charakteren widmet. Als krasser Gegenpol fungiert der erfolgreiche Bauunternehmer Hadschi Hamit Vural, der wie Mevlut einst aus Anatolien nach Istanbul gekommen ist. Der vermögende »Aufsteiger« hat eine Moschee gestiftet und sich gesellschaftlich etabliert. Eine nicht zu leugnende kriminelle Energie, Korruption und unreflektierter religiöser Enthusiasmus kennzeichnen Vurals Vita, bei deren Beschreibung Pamuk mit großem Impetus bei der Sache ist.

Liebesgeschichte, Schelmenroman, Gesellschaftsepos und erzählendes Geschichtsbuch will Pamuks neues Werk gleichzeitig sein. Ein Roman, der um Verständnis für das konservative Weltbild der Unterschicht bemüht ist und vielleicht gerade deshalb das bisher erfolgreichste Buch des Nobelpreisträgers in seiner Heimat ist. So ehrbar Orhan Pamuks von einsetzender Altersmilde geprägtes Anliegen als »Brückenbauer« auch sein mag, so fremd (der Titel lässt grüßen) und wenig zugänglich bleibt uns Mevluts Gedankenwelt. Hübsch und detailverliebt erzählt, aber ganz stark weichgezeichnet und ohne Biss.

| PETER MOHR

Titelangaben:
Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
München: Hanser Verlag 2016
592 Seiten. 26.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Verrückte Geschichte

Nächster Artikel

Trautes Heim …

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Aggression nach außen

Roman | Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia

»Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde, ich kann nicht länger dagegen ankämpfen«, lässt Michael Kumpfmüller in seinem neuen Roman seine Hauptfigur, die weltbekannte Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941) klagen. Der 58-jährige Erfolgsautor Kumpfmüller, der erst im Alter von fast vierzig Jahren mit seinem von der FAZ damals vorab gedruckten Romanerstling Hampels Fluchten debütiert und zuletzt mit Nachfolgewerken wie Die Erziehung des Mannes (2016) und Tage mit Ora (2018) respektable Erfolge gefeiert hatte, widmet sich künstlerisch nun zum zweiten Mal einer Lichtgestalt der Weltliteratur. Vor neun Jahren ließ er uns in Die Heimlichkeit des Lebens an seiner Annäherung an Franz Kafka teilhaben. Von PETER MOHR

Eine große Portion Blut mit einem Klecks Unglaubwürdigkeit an Schnee

Roman | Jo Nesbø: Blood on Snow Ein Serienkiller als gutherziger Taugenichts, der seine Profession mit moralischen Gründen rechtfertigt: Eine solche Figur glaubwürdig darzustellen, ist ein schwieriges Unterfangen. In ›Blood on Snow‹ versucht Jo Nesbø es trotzdem. Herausgekommen ist ein Thriller mit zu hohen Ambitionen – für Krimifans, die hart im Nehmen sind. Von VALERIE HERBERG

Schuld und Sühne in der Provinz

Roman | Reinhard Kaiser-Mühlecker: Schwarzer Flieder Er ist gerade einmal 32 Jahre alt, hat nun bereits seinen fünften Roman vorgelegt und ist längst über den Status des Geheimtipps hinaus gewachsen. Die Rede ist von Reinhard Kaiser-Mühlecker, der in der oberösterreichischen Provinz aufgewachsen ist und der sich seit seinem 2008 mit dem Jürgen-Ponto-Literaturpreis ausgezeichneten unkonventionellen Debütroman Der lange Gang über die Stationen kontinuierlich – und völlig abseits des literarischen Mainstreams – weiterentwickelt hat. Jetzt hat Reinhard Kaiser-Mühlecker den Roman Schwarzer Flieder vorgelegt. Von PETER MOHR

Mörderisches Flickwerk

Roman | Daniel Cole: Ragdoll Je einen Körperteil von sechs Leichen hat ein Mörder benutzt, um eine grauenvolle Flickenpuppe, eine »Ragdoll«, zusammenzunähen und sie der Londoner Polizei in einer gespenstischen Performance zu präsentieren. Aber damit nicht genug: Der Psychopath kündigt über die Medien weitere sechs Morde an. DIETMAR JACOBSEN hat ›Ragdoll‹ von Daniel Cole gelesen.

Mörderjagd im Nachkriegs-Wien

Roman | Karl Rittner: Die Toten von Wien

Eigentlich sucht Alexander Baran seit beinahe einem Jahrzehnt nach seiner verschwundenen Schwester Szonja. Da trifft es sich ganz gut, dass der ungarische Adlige, der eigentlich Sandor Baranyi heißt, nach dem Ersten Weltkrieg in Wien und dort bei der Polizei gelandet ist. Als Kommissär, dessen Abteilung »Verbrechen an Leib und Leben« aufzuklären hat, muss er sich aktuell freilich mit seinem Kollegen Florian Meisel um den Fall einer ermordeten Tänzerin kümmern. Bald kommen weitere Todesfälle hinzu. Und auch für die beiden Polizisten wird es immer gefährlicher. Von DIETMAR JACOBSEN