Celui qu’on attendait

Film | Filmfestival Mannheim-Heidelberg. Lost in Armenia von Serge Avedikian

»Was ist dieses ›Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg‹ eigentlich? Und zwar unter den über tausend internationalen Filmfestivals, die es gibt auf der Welt, Hundert davon allein in Deutschland oder in Frankreich, Italien hat auch nicht eben wenige, Asien gründet sie im Jahrestakt. Wobei das Schöne daran ist: sie wollen alle dieselben Filme haben, nämlich die, die gerade fertig geworden und besonders gut gelungen sind.«

Filmfest Mannheim-Heidelberg »Immer alle Tausend Festivals dieselben 100 Filme. Ich erinnere mich noch, wie ich nach zwei, drei Jahren meiner Amtsführung zumindest dies begriffen hatte: dass das keinen Spaß macht, nur mit größtem Hauen und Stechen diese Filme nach Mannheim-Heidelberg holen zu können, wo es doch, sagen wir, beim Filmfestival von Locarno einen schönen See gibt, bei dem von Thessaloniki gleich ein ganzes Meer, beim Festival von Sundance Robert Redford um die Ecke wohnt und Stockholm auch eine schöne Stadt ist – um nur die harmlosen der Konkurrenzfestivals zu nennen.

Nein, dachten wir, so geht das nicht, und erfanden, sozusagen mit deutscher Gründlichkeit, die weltweite Recherche, bei der wir wie mit einem riesigen Kamm, in dem wirklich alle Filme von Newcomer-Regisseuren hängen bleiben, durch die weltweite Jahresproduktion gehen und dabei eben auch die Filme erwischen, die die anderen gar nicht im Blick haben, weil man doch noch gar nichts von ihnen gehört hatte. Und mit dieser Methode arbeiten wir bis heute: erfassen jährlich etwa 8.000 Filmtitel von Newcomern in unserer Datei, schauen uns gut 1.000 davon an, nach dem Einsammeln unzähliger Tipps und Hinweise, haben schließlich etwa 150 Filme in der Endrunde.« (1)

Der vor seinem Ruhestand in Deutschland, überwiegend im Radio als Kulturberichterstatter tätige Filmbeobachter Didier Calme ging früher sehr gerne und häufig auch privat ins Kino. Bis etwa um 1990, als sich alles wendete, die Richtung änderte und in jeder Hinsicht nur noch grenzenlose Action angeboten wurde. Um die Jahrtausendwende machte er noch einmal einen Versuch, den er nach etwa einer halben Stunde entnervt aufgab, weil er wegen der Lautstärke einen Gehörschaden zu erleiden drohte. Er verließ das Kino, auch der grandiose Hauptdarsteller Bruno Ganz hinderte ihn nicht an seinem Abgang aus Pane e Tulipani (›Brot und Tulpen‹). Von da ging er ins Fernsehen, zu Arte. Doch seit 2014 geht er wieder ins Kino. Aber nur noch in Mannheim-Heidelberg, zum dortigen Filmfestival, für das er eigens aus dem Filmland Frankreich anreist; nun, aus Strasbourg ist es nicht allzu weit in die Rhein-Neckar-Region. Es mag unter anderem daran liegen: Dort scheint das angenehmste, konzentrierteste Publikum aufgeboten zu sein. Es applaudiert jedenfalls verhalten, wenn eine Propellermaschine bruchlos landet. Vor allem aber: Auf dem dortigen Filmfestival wird nicht so viel Theater ums Kino gemacht, es fällt leicht, nicht auf rote Teppiche treten zu müssen.

Er war wieder dort. Nicht in Heidelberg, nicht zur Eröffnungsrede. Er hat sich an den Ursprungsort des 1952 dort gegründeten Festivals begeben: nach Mannheim. Als erstes hat er sich einen Film angeschaut, der in Frankreichs zwar bereits seit einigen Monaten in den Kinos gezeigt wird, aber er geht schließlich nur noch in Mannheim ins Kino. Und es handelt sich um einen Film, mit dessen Thematik er seit etwa zwei Jahrzehnten befaßt ist: Armenien.

Filmfestival Mannheim-Heidelberg
Gespräch mit Publikum nach dem Film: Rüdiger Suchsland (Moderation), Dolmetscherin (deren Namen wir leider nicht kennen), Patrick Chesnais, Serge Avedikian und rechts Julia Teichmann (Moderation).
Photographie: Claudia Joerger

Celui qu’on attendait

Lost in Armenia von Serge Avedikian
Die in Musa Ler, so stand es 2011 in der Wochenzeitung Freitag geschrieben, im offiziell letzten armenischen Dorf in der Türkei geborenen Ayda Abgaryan, erzählte:

»Sehr schwierig ist das, in Deutschland als Armenier zu leben, gerade in Berlin. Ich bin hier zur Schule gegangen, ich habe sehr viele türkische Klassenkameraden gehabt. Während des Studiums war ich sehr viel mit Türken zusammen … Es ist für mich immer wieder die gleiche Frage: ›Bist du Armenierin? Oh Gott!‹«(2)

In Frankreich ist die Situation eine völlig andere. Dort sind die Armenier Franzosen. Rund 60.000 Überlebende nahm Frankreich nach 1920 auf, als es der Türkei nicht gelungen war, sie alle dahinzuraffen; insgesamt waren es anderthalb Millionen Menschen. In einem viele Jahre andauernden Kraftakt, dem enorme Auseinandersetzungen vorausgingen, nicht zuletzt deshalb, da zwischen Frankreich und der Türkei der höchste Warenverkehr zumindest europa-, wenn nicht gar weltweit stattfand, erkannte die französische Nationalversammlung im Januar 2001 per Gesetz die Massaker am armenischen Volk als Völkermord an (vom unlängst getroffenen Beschluß der Resolution des deutschen Bundestags hört oder liest man kaum noch etwas.(3)) Eve-Anna Khachikian, zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt:

»Wir standen damals alle vor dem Senat und harrten der Abstimmung der Politiker. Es war die größte armenische Kundgebung, die ich in Frankreich je gesehen habe. Viele alte Frauen weinten. Uns allen ging das sehr ans Herz. Denn Frankreich hat ja nach den Massakern die Überlebenden aufgenommen, hat ihnen ermöglicht, im Leben voranzukommen, ihre Kinder gut ausbilden zu lassen. Unsere Großeltern waren vielleicht noch Schuster oder Änderungsschneider. Wir nun studieren, Journalismus oder auch Kunst wie ich. Wir sind der lebende Beweis für den sozialen Aufstieg.«4)

Verstreut sind sie in die ganze Welt. Einige Namen seien genannt: Aram Khachaturian, der Komponist, der Schriftsteller William Saroyan, der Künstler Arshile Gorky, Cherylin Sarkissian, der weibliche Part von Sonny and Cher (I got you Babe)(5), der milliardenschwere Investor Kirk Kerkorian, Artem Mikoyan, Konstrukteur des russischen Kampfflugzeuges MIG, der Tennisspieler Andre Agassi, Jouri Djorkaeff, der in Kaiserslauterns Bundesligamannschaft Fußball spielte.

In Frankreich sind, bedingt durch die erwähnte Aufnahme ins Land, nicht minder bekannte Namen zuhause, von denen allerdings einige zumindest namentlich ihre Identität verändert haben; und sei es, um schriftlich identifiziert werden zu können; in Frankreich tut man sich manchmal schwer mit fremden Buchstabenfolgen.

Henri Verneuil hieß ursprünglich Achod Malakian. Die Mutter des Formel-1-Rennfahrers Alain Prost war Marie-Rose Karatchian. Aus dem Schuhfabrikanten Stéphane Kéloglanian wurde Stéphane Kelian. Der in Deutschland am bekanntesten armenischstämmige Franzose dürfte wohl Charles Aznavour sein: ursprünglich Aznavurian, auch Šahnowr Vałinak Aznavowryan.

Im Film des 1955 in Eriwan geborenen und 1970 nach Frankreich gekommenen Serge Avedikian wird der Hinweis auf Aznavurian lediglich einmal kurz erwähnt, als es in einer Szene darum geht, wieviele Armenier doch Berühmtheiten geworden seien. In Frankreich ist das Alltagswissen. In einer nachdenklich stimmenden Passage innerhalb dieser Komödie, die, wie meistens bei einer qualitativ hochstehenden, einen sehr ernsten Hintergrund hat, einem Gespräch zwischen Tzarkanoush (Arsinée Khanjian), einer Professorin für französische Literatur an der Universität Eriwan, die hin und wieder der Polizei behilflich ist – »Bei uns in Frankreich täte das niemand.« – , und dem in Armenien Verlorenen (Patrick Chesnais) kommt zur Sprache, jeder Armenier habe jemanden in Frankreich, der kommen und ihn retten werde. Jeder habe einen Bolzekian. Es handelt sich bei dieser Namensvariante, erläutert ihm die süße Blüte Tzarkanoush, um das Traumgespinst eines jeden Armeniers, das nun in seiner Person aus dem heiligen Land aufgetaucht sei.

Eigentlich heißt er John Paul Bolzec, stammt aus Grenoble und ist Komiker eher schlichterer theatralischer Fähigkeiten (im Gegensatz zu denen des ungemein still-komischen Hauptdarstellers Patrick Chesnais). In Aserbaidschan fand er, anscheinend gerade noch, ein überdies nicht einmal sonderlich gut honoriertes Engagement, von dem ihm seine Frau abgeraten hat, es anzunehmen. Doch nach 25 Jahren Ehe hört man häufig einander nicht mehr so gut zu. Auf dem Rückweg nach Baku, zum Flughafen der Hauptstadt Aserbeidschans, von dem er wieder nach Paris zurückfliegen möchte, wird das Taxi von armenischen Heckenschützen beschossen, dessen Fahrer verständlicherweise daraufhin die Flucht ergreift. (Aserbaidschan und Armenien befinden sich nach wie vor im unausgeschriebenen Krieg, hin und wieder kommt es zu Gefechten.) Der Komödiant macht sich zwangsläufig zu Fuß auf, in der Hoffnung, doch noch zum Flughafen zu gelangen. Ohne es zu merken überschreitet er die Grenze nach Armenien. Als er auf den ersten Menschen trifft in dieser gebirgigen Wüstenei des Kaukasus(6); nein, es ist kein Film über das wunderschöne Armenien – beim abschließenden Gespräch mit Serge Avedikian und Patrick Chesnais meinte eine Dame aus dem Auditorium, sie habe, als sie vergangenes Jahr durchs Land gereist sei, sehr viel schönere Bilder gesehen –, sitzt der auf einem Maultier und redet in einer Bolzec unverständlichen Sprache auf ihn ein. In der Hoffnung, von dem kaukasischen Eselsritter Hilfe, also Transportmittel zu erlangen, hält er ihm ein Bündel Geld hin. Der Beschenkte bricht daraufhin in ein tobendes Geschrei aus und ergreift wild davonreitend die Flucht. Der nicht nur über die politischen Verhältnisse nicht so recht informierte Komödiant aus Frankreich hatte ihm Geld aus dem Feindesland Aserbeidschan in die Hand gedrückt. Als Spion wird er schließlich abgeführt und sistiert.

Armenien
Der Spion Bolzec wird im örtlichen Polizeitransporter ins Gefängnis gebracht.

Nach einer Weile in einem äußerst schmucklosen, gefängnisartigen Gebäude kommt Bolzec wieder frei, man entschuldigt sich. Flugs wird er Erlöser, wird Bolzekian, Stifter in einem elendiglichen Dorf – gedreht wurde auf 2000 Metern Höhe, im hohen Norden, völlig entgegengesetzt von der Metropole Eriwan, fünf Kilometer von einem von 300 Soldaten bewachten Grenzübergang nach Aserbeidschan, unweit von Georgien. Dieses Dorf ist im Grunde ohne Elektrizität, genauer: über deren Ge- und Verbrauch gebietet eine Art Land- oder Dorflord, ein Überbleibsel aus der Zeit Armeniens als Teil der Sowjetunion, ein eigentlich guter Mensch, wie Serge Avedikian im Abschlußgespräch andeutete.

Er wird Held wider Willen einer urbanen Legende, wie ihm die schöne Frau Professor, die Dometscherin aus Eriwan, zu verdeutlichen versucht. Bolzec ließe sich durchaus auch als in den Kaukasus geratener Candide bezeichnen. Als Hilf- und Ahnungsloser läßt er sich, auch hilflos in seiner Sprachlosigkeit, auf alles mögliche ein, Hauptsache, sie lassen ihm seine Ruhe. Immer dann, wenn er nickt beziehungsweise okay sagt, heißt das für die anderen ihn Umringenden und immerfort auf ihn Einredenden: er hat ja gesagt, er zahlt, den Strom, zunächst die Reparatur des völlig desolaten Generators. Um das umsetzen zu können, benötigt er Geld. Dazu befördert man den Messias aus Frankreich auf einem vermutlich während der Zeit der Gründung der Sowjetunion gefertigten Lastkraftwagen in ein fünfzig Kilometer entferntes etwas größeres Dorf. Zwar sieht Bolzec einen Hoffnungsschimmer, der in ihm eine Fahrt zum Flughafen aufflackern läßt, doch er findet sich schließlich in einer Filiale der Crédit Agricole wieder, des französischen Geldverwaltungsinstituts der Bauern, vergleichbar mit der deutschen Sparkasse ihres Gründers Raiffeisen. Aus diesem Gebäude versucht er zu fliehen, durch das Oberlicht einer Toilette, die einzige nicht vergitterte Öffnung des Hauses. Doch er entkommt ihnen nicht. Seine Begleiter und Beschützer nehmen sich seiner am Ausgang wieder an. Der Herr Direktor kredenzt reichlich (armenischen?) Cognac und kommt seinem Gast entgegen, der ihn um ein Gespräch unter vier Augen bittet. Sogleich ist er intensiv bemüht, seinen schwerreichen Gegenüber mit Investitionen zu beglücken und legt ihm diverse Prospekte vor. Der hat jedoch zunächst nichts als die schlichte Bitte, ihm am Computer mal zu zeigen, wo er sich hier eigentlich befindet.

Armenien Landkarte
Quelle: http://mgouna.les-forums.com/topic/641/l-armenie

Außerhalb der Chefetage geht es dann wieder ums Geld. Eine Rechnung legen sie ihm vor, auf der eine Summe mit ungeheuerlich vielen Nullen zu lesen ist. Diesen Betrag solle er zahlen, für Strom beziehungsweise die Reparatur des Generators. Die hübsche junge Schalterbeamtin spricht immerhin französisch. So stellt sich heraus, daß es sich bei der immensen Zahl um Dram handelt, die armenische Währung. Und sie rechnet rasch den vergleichsweise geringen Euro-Betrag aus: ein paar hundert sind es nur (100 armenische Dram aktuell = 0,1881 Euro). Ein gewaltiges Dram-Bündel kommt zusammen, das er nahezu erleichtert direkt an seine Begleiter weitergibt.

Der in Armenien gefangene Komödiant kommt, nachdem er einiges über sich ergehen lassen mußte – dorfjugendlicher Rap, mit bildungs- und gesellschaftstützenden (!) Texten, ständig auf Smartphones Selfies produzierende jungen Mädchen ohne Verbindung ins Internet, dazwischen dieselben in traditionellem Volkstanz; eine Art Abendmahl im Öllampenschein, da temporäre Stromsperre durch den Herrscher über das Dorf, der sich das Geschäft nicht aus der Hand nehmen lassen will von solch einem Ausländer, da mag er noch so Franzose sein; immer wieder die Versuche, mit der Gattin im heimatlichen Frankreich Kontakt aufnehmen zu können, doch sie geht nicht ans Telephon, hat ihn wahrscheinlich längst verloren gegeben in Armenien, deshalb jedesmal das Hinaufsteigenmüssen auf den Turm einer Kirche, die seit dem im Land bestehenden Christentum zu Beginn des 4. Jahrhunderts nicht mehr renoviert worden sein dürfte, weil es nur dort oben Empfang gibt –, aber er kommt so langsam zurecht in dieser anderen Welt. Man ist aber auch geradezu ungeheuerlich, zumindest ungewohnt freundlich und liebevoll ihm gegenüber. Er darf im Bett schlafen, während die restliche Gastgeberfamilie auf dem Boden liegt, der Dorfpriester, der den Filmbeobachter ein wenig an den deutschen Pater Lepsius aus Franz Werfels 1933 erschienenem, ungemein stoffreichen, die Tragödie Armeniens nachzeichnendem Roman Die vierzig Tages des Musa Dagh denken läßt, der dieses Volk zu retten sich bemühte, überhaupt die außerordentliche Gastfreundschaft, die sich laut Regisseur und Hauptdarsteller bis heute gehalten hat.

Bolzec inmitten seiner Gastgeberfamilie beim Abendmahl
Bolzec inmitten seiner Gastgeberfamilie beim Abendmahl
Auch ein Verhör durch die Polizei übersteht er nicht nur, wobei auch dabei ein in die Rocktasche des Kommissars gleitender geldgefüllter Umschlag eine Rolle spielt, sondern er sieht sich mittlerweile in einer Wilkommenssituation. Mehr, er bringt der ältereren Tochter seiner Gastgeber die richtige Gesangshaltung, Lippenformung und Stimmführung bei, auf daß die an einem Gesangswetbewerb teilnehme; lernt mit der jüngeren Französisch; studiert selbst die armenische Sprache, für die er sich eigens ein Wörterbuch zugelegt hat, einen in der Hosentasche beförderten Wust an Zetteln; beabsichtigt, Les aventures de Tintin, in Deutschland bekannt als Tim und Struppi, ins Armenische zu übersetzen; packt überhaupt überall mit an, gibt gleich einem erfahrenen Handwerksmeister dirigierende Anweisungen zum Verputzen, zum Streichen der Wände, überhaupt zum Verschönern der Welt. Mittels Bolzecs überzeugender, bühnenerfahrener Stimme sowie dramatischer Gestik hatte man zuvor sich bereits des Dorfdespoten entledigt.

Armenien 4
Hier die noch herrschende Dorfregierung
Das Dorf ist frei, und mittendrin befindet sich der nun befreite Messias. Ihn drängt es überhaupt nicht mehr heim ins Land der Franken, über das ebenfalls im vierten Jahrhundert das Christentum kam und das bis heute geblieben ist, umringt von Muslimen, hier hat er sein ruhendes Ich gefunden, weitab dieser ganzen Kämpfe mit Ehefrau und denen der Zivilisation.

Doch dann taucht die schöne, kluge und weise Professorin mit einem Mal wieder auf, um in abzuholen, um ihn zum Aeroporte – den Patrick Chesnais zu Beginn seiner filmischen Gefangenschaft immer wieder verzweifelt gestisch mit wackelnden Armen darzustellen sich bemüht – abzuholen. Bolzec bittet um zwei Wochen Gnadenfrist. Sie wird ihm lächelnd, eher schmunzelnd gewährt. Doch exact nach Ablauf der Frist rollt das Automobil der Behörde unbarmherzig wieder hinein ins Dorf. Frau Professor, erneut in behördlicher Hilfestellung unterwegs, läßt bitten. Mit eindeutig vom Blick des Trauer erfüllt setzt sich Bolzec im Fond nieder, die längst zur Gesprächspartnerin und Freundin gewandelte Polizeiberaterin Tzarkanoush begibt sich dazu, alle winken von außen ihrem scheidenden, zum Freund gewandelten Messias traurig zu, und ab geht der Abschied.

Der Filmbeobachter hat die dann folgende Schlußszene allzu oft im Kino oft gesehen, daß er versucht war, auf ihre Erwähnung zu verzichten. Doch es handelte sich letztlich um ein irgendwie völlig anderes Ende als ansonsten, ist hier doch ein schlüssiger Bogen beschrieben. Wie eingangs von Celui qu’on attendait, von Lost oder verloren in Armenia , da wegen des zerschossenenen Motors ein schreckenverheißender Lärm erklang, den Grund erfährt der Zuschauer nicht, aber er ahnt es. Und da geht Bolzec, der ehemalige Komiker aus Grenoble, tatsächlich die Straße hinan in Richtung Dorf, aber eben nicht mehr als Bolzekian. Oder vielleicht dann doch. Mit diesem Namen? Ist aus dem schlechten Traum schöne Wirklichkeit geworden? Welche auch immer. Denn ab sofort ist er Armenier. Er ist frei, er ist ich. Nein, er ist nicht, wie leider im Film mit Je suis un autre(7) fälschlich suggeriert wird, nach Arthur Rimbaud ein anderer. Er ist ab sofort er selbst.

Robert Guédiguian hatte der Filmbeobachter eingangs zu erwähnen vergessen, auch er ein in Frankreich recht bekannter armenischstämmiger, großer Regisseur kleiner Filme. Dessen Produktionen schildern in der Regel das Milieu der einfachen, am unteren Ende der sozialen Leiter hängengebliebenen Leute; sein in Deutschland vermutlich bekanntester Film dürfte sein Marius et Jeannette(8). Guédiguians Filme wären sozusagen als Innenpolitik zu bezeichnen, die kaum ins Ausland dringt, weil ohnehin niemand die Franzosen versteht. Halt, ein Deutscher hat sie verstanden. Kurt Tucholsky schrieb in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts in seinen Schnipseln: »Die Deutschen muß man verstehen, um sie zu lieben, die Franzosen muß man lieben, um sie zu verstehen.« Er verstand sie, da er sie liebte. Deshalb reiste er immer wieder dorthin.

Serge Avédikian hat nun quasi den diplomatischen Part, die Außenpolitik übernommen, indem er diese Thematik, für die es in Deutschland keine vergleichbare gibt, über die Grenzen hinausträgt. Auch er hat einen kleinen Film produziert, allerdings einen mit ungemeiner, stiller Komik, der vermutlich auch in Aserbeidschan oder in Mecklenburg-Vorpommern, vielleicht sogar in der Rhein-Neckar Region funktionieren dürfte, weil er von der Liebe erzählt. Hier ist es die zu einem Land oder besser zu dessen Menschen, aus dem der Regisseur kam und in das er jetzt wieder gereist ist und in das er uns mitgenommen hat. Eine solche Warmherzigkeit versteht man überall, dazu bedarf es keiner Politik. Aber es schadet auch nicht, wenn man’s weiß, um was es geht.

Der Filmbeobachter dankt, verbunden mit der Hoffnung, Verloren in Armenien möge auch in Deutschland in die Kinos kommen. Es dürfen ruhig die kleinen sein.

| DIDIER CALME

Titelangaben
Celui qu’on attendait/Lost in Armenia
WTFilms
Darsteller/Cast:
Patrick Chesnais (Bolzec), Arsinée Khanjian (Tzarkanoush),
Robert Harutyunyan (Arsham), Nikolay Avétisyan (Shirak)
u.v.a.
Buch/Screenplay: Serge Avedikian, Jean-François Derec
Kamera/d.o.p: Boubkar Benzabat
Schnitt/Editing: Alexandra Strauss
Musik/Music: Gérard Torikian
Produzent/Producer: Frédéric Niedermayer
90 Minuten/Minutes

Trailer
Photographie Mannheim: Claudia Joerger

(1)http://www.iffmh.de/fachbesucher/pressemitteilungen/ singleansicht/article/-9d25b1c5e6
(2)https://www.freitag.de/autoren/recon-kooperationsprojekt/ich-bin-armenierin-und-keiner-konnte-damit-wasanfangen
(3)https://www.tagesschau.de/inland/bundestag-armenien-109.html
(4)http://www.deutschlandradiokultur.de/armenier-in-frankreich-die-kindeskinder-derueberlebenden.2165.de.html?dram:article_id=317894
(5)http://www.dailymotion.com/video/x1a4jy_sonny-and-cher-i-got-you-babe_music
(6)Als Caucasians werden in englisch-, überwiegend US- oder südafrikananischsprachigen Veröffentlichungen in erster Linie Weiße benannt. Weshalb sich das so verhält, ist dem Autor nicht so recht deutlich geworden. Seine Vermutung liegt darin, daß die Identifikation mit dem alten Christentum zugrunde liegt, das sich eben dort von Anfang, vom 4. Jahrhundert an solange gehalten hat
(7)Rimbaud hatte 1871 an Paul Demeny geschrieben Je est un autre, also Ich ist ein anderer
(8)http://programm.ard.de/?sendung=287246038632089

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