Liebe dein Chaos!

Jugendbuch | Albert Espinosa: Club der blauen Welt

Was würden Sie tun, wenn Sie erfahren, dass Sie nur noch wenige Tage zu leben hätten? Aufgeben und im Krankenhaus im Schmerzmittelrausch seicht vor sich hin vegetieren? Oder fangen Sie an endlich an, das Leben völlig verrückt in vollen Zügen zu genießen? Den jungen Helden dieser Geschichte verschlägt es ins ›Grandhotel‹, dem idyllischsten Ort zum Sterben. Dort ist nichts so, wie er es erwartet hätte. Ein Aufruf, das eigene Lebenschaos zu lieben, bevor es für immer verloren geht. Von MONA KAMPE

Espinosa - Club der blauen weltNun ist endgültig Schluss: Der junge Protagonist dieser Geschichte erhält von seinem behandelnden Arzt mit zerknirschtem Gesicht die Diagnose, dass sein jahrelanger Kampf erfolglos war. Ihm bleiben nur noch wenige Tage – wahrscheinlich wird er die Volljährigkeit nicht mehr erleben.

Was nun? Familie und Angehörige hat er keine, sein Vater stürzte sich die Klippen hinunter ins Meer, als er elf Jahre alt war. Gezeichnet von der grauen Krankenhausluft macht er sich auf eigene Faust auf den Weg in die Welt, um im ›Grandhotel‹ einzuchecken. Dies sei der idyllischste Ort, um zu sterben, hatte ihm ein Zimmernachbar einmal vorgeschwärmt. Doch man kommt nur rein, wenn niemand mehr da ist, der sich um einen kümmert. Kein Problem! Die Reise beginnt – natürlich mit Kopfhörern im Ohr, denn die Musik ist die einzige, die ihn niemals loslässt.

»Du musst hier etwas finden, was du schon immer ausprobieren wolltest, und es dann in die Tat umsetzen«,

rät ›Junge‹ ihm. Er kann höchstens um die zehn Jahre alt sein. Der Neuling, der gerade auf der malerischen Insel eingetroffen ist, versteht nur Bahnhof. So hatte er sich das ›Grandhotel‹ nicht vorgestellt! Zuerst ein Kamelritt, da das Auto auf der Strecke versagt hat – der jedoch nur ein kleiner Willkommensspaß der Bewohner war. Dann ein launisches Mädchen mit einem Schachbrett, das ihm äußerst ungehalten zu verstehen gibt, dass er hier so gar nicht erwünscht ist. Ein Leuchtturm als Schlafplatz mit einer Zimmerordnung nach Ankunft. Eine Schaukel an einem Drachenbaum im Nirgendwo mit einem agilen, fröhlichen Jungen darauf, dem mehrere Gliedmaßen amputiert wurden – ähnlich einem ›Stumpf‹. Wo bitte sind die Erwachsenen und die Betreuer? Das hier ist doch eine verkehrte Welt!

Und das gemeinsame Essen? Grillen auf Lava am Strand mit einem Kranz in der Mitte. Jemand ist gestern von ihnen gegangen – der Freund des Mädchens mit der unvollendeten Schachpartie. Ihr Ausgang wird unergründlich bleiben. Sie feiern sein Leben mit den Worten, was ihnen von ihm bleibt und lassen seine Asche als leuchtendes Feuerwerk im Vulkan aufgehen. Der Anführer dieser Generation hat das Ritual bestimmt. Wer bitte?
Es ist ein Mix aus Verwirrung und Faszination. Der Protagonist sollte erschöpft von der langen Reise sein, doch fühlt sich lebendiger als jemals zuvor. Seine Neugierde siegt – auch wenn Angst und Unverständnis in ihm brodeln. In Gesprächen mit den anderen zu Tode geweihten Jugendlichen auf der Insel und Menschen, die ihnen zur Seite stehen, beginnt er nach und nach zu begreifen, dass diese Welt sich bewusst von der ihm bekannten unterscheidet. Seine Sorgen schwinden und sein wahres Ich kommt zum Vorschein. Er muss sich schließlich auf seine Generation vorbereiten.

Jeder hier hat etwas gefunden, dass er schon immer tun wollte und dass seinem Leben einen Sinn gibt. ›Junge‹ erfindet Spiele, denn die Welt »ist der größte Spielplatz, den es gibt«, ›Stumpf‹ spielt auf seinem selbst gebastelten, kleinen Schlagzeug und das Mädchen und ihr Freund haben sich ganz der Kunst des Schachspiels verschrieben. Doch was ist das Richtige für ihn? Zeichnen, schreiben? »Das Singen hatte in meinem Leben immer schon gefehlt« – so stellte er fest, dass schön wäre, wenn er Arien singen könnte. Ein Opernsänger im Krankenhaus konnte das poetisch gut und hat damit sicher viele kranke Körper und Seelen geheilt. Musik ist seine Leidenschaft, also muss das Singen sein Glück sein – aber bleibt ihm noch genug Zeit, diesen Wunsch zu erfüllen?

»Liebe dein eigenes Chaos«

Eigentlich ist es ganz einfach: »›Liebe dein Chaos‹ bezieht sich auf das, was dich vom Rest der Menschheit unterscheidet. Das sind Dinge, die andere nicht verstehen und die du ihrer Meinung nach ändern solltest. Und unser Chaos macht uns aus. Das Chaos ist deine Persönlichkeit ohne Urteil oder Moral. Wenn du dein Chaos liebst, dann wirst du Antworten bekommen, die dir diese Welt niemals geben kann. Weil du sie nämlich in dir selbst findest«.
Doch dies verstehen zu lernen, was die schwangere Frau, die ihn das Singen lehren soll, philosophiert, fällt den meisten Menschen schwer – so auch dem jungen Helden. Auf der Insel – jenseits von Verpflichtungen, Schuldgefühlen und Wertevorstellungen der Erwachsenen – begreift er, für den im Angesicht des Todes jede Sekunde zählt, worauf es wirklich ankommt und was sie längst vergessen oder verlernt haben.

Mit seinem jüngsten Roman vollendet Albert Espinosa, Autor, Schauspieler, Film- und Theaterregisseur in Barcelona, seine Farben-Trilogie. Nach ›Glücksgeheimnisse aus der gelben Welt‹ und dem Bestseller ›Club der roten Bänder‹, auf dem die beliebte VOX-Jugendserie basiert, folgt sein phantastischer Aufruf an den Leser, seine eigenen Lebensideale und -gewohnheiten zu hinterfragen und mit ihm die blaue Welt zu erschaffen: »Alles fängt gelb oder auch rot an, verfärbt sich dann aber nach und nach zu Blau. Dieses Buch ist Fiktion und Nichtfiktion zugleich. Vor allem erzählt es jedoch von ganz unglaublichen Menschen«.

Ein scheinbar kurzes Intermezzo, das jedoch aufgrund der metaphorischen Erzählweise sowie der kreativen, spielerischen Auseinandersetzung mit essenziellen Lebensfragen und der Empathie für den jungen Helden und seine Gleichgesinnten zum intensiven Leseerlebnis wird. Der ›Club der blauen Welt‹ ist auf den ersten Blick chaotisch, wird aber verständlicher, wenn wir uns gemeinsam mit den Figuren auf das Abenteuer Leben einlassen.

| MONA KAMPE

Titelangaben
Albert Espinosa: Club der blauen Welt
An was glaubst du, wenn morgen dein letzter Tag wäre
München: Goldmann 2016
192 Seiten, 9,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Same procedure as every year?

Nächster Artikel

Nimm den Stein, hau den Schleim 

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Wiedersehen mit Südafrika

Jugendbuch | Lizzy Hollatko: Der Sandengel Südafrika ist kein Land mehr, das häufig in den Schlagzeilen auftaucht. Vieles hat sich geändert dort seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Es gab aber eine Zeit, als allein das Wort ›Südafrika‹ Empörung und hitzige Diskussionen auslöste und die liegt gar nicht so lange zurück. Lizzy Hollatko erzählt in dem Jugendroman ›Der Sandengel‹ von einer weißen Kindheit in einem rassistisch geteilten Land. Von MAGALI HEISSLER

Der Traum von der Golden Gate Bridge

Jugendbuch | Ying Chang Compestine: Revolution ist keine Dinnerparty Die Kulturrevolution in China endetete offiziell im Jahr 1969. Die Säuberungsaktionen gegen Andersdenkende, der Tod von Hunderttausenden, physische und psychische Misshandlungen währten aber bis zum Tod Maos. Was das tatsächlich für eine Familie bedeutet, erfährt man aus der Sicht der neunjährigen Ling. Von ANDREA WANNER

»Denn es ist alles eins«

Jugendbuch | Kelly Barnhill: Das Mädchen, das den Mond trank Eigentlich funktionieren doch die meisten Märchen nach dem gleichen Prinzip: Es gibt das Gute und das Böse. Das Böse erringt zunächst einen Teilsieg gegen das Gute, aber am Ende gewinnt das Gute. Dass das alles nicht so einfach ist, zeigt Kelly Barnhills märchenhafter Fantasyroman. Von ANDREA WANNER

Wie geht’s dir?

Jugendbuch | Umberto Galimberti und Anna Vivarelli: Das große Buch der Gefühle

Bücher über Gefühle liegen für die Kleinen im Trend. Da wird gezeigt, was Angst, Wut oder Freude bedeuten, wie man mit eigenen Gefühlen umgeht und die von anderen wahr- und ernst nimmt. Und jetzt gibt es so etwas endlich auch für die Großen, freut sich ANDREA WANNER

Genau richtig

Jugendbuch | Nikola Huppertz: Fürs Leben zu lang

Mit ihren 13 Jahren misst Magali stolze 182 Zentimeter – und es werden wohl noch ein paar mehr werden. Der Teenager ist unglücklich und fühlt sich falsch im eigenen, viel zu langen Körper. Vor allem: Wer soll so einen langen Lulatsch küssen? Von ANDREA WANNER