Endlich selber lesen

Kinderbuch | Starke Mädchengeschichten; Starke Jungsgeschichten. Lesemaus zum Lesenlernen

Vorlesen lassen ist wunderbar, gemütlich und gemeinschaftsfördernd. Allein auf Buchseiten in die Welt hinaus ziehen, ist ein Abenteuer, das es so kein zweites Mal gibt. Lesen lernen sollte sich niemand entgehen lassen. Die Lesemaus von Carlsen hilft, aber in diesem Fall nicht ganz zum glücklichen Ende. Von MAGALI HEISSLER

Lesemaus - Starke Jungs GeschichtenDie schönen Bände mit den vielfältigen Geschichten in äußerst lesefreundlicher Schriftgröße gibt es seit einigen Jahren schon, und die Lesemaus arbeitet fröhlich und offenbar recht erfolgreich daran, den Kleinen die Kulturtechnik Lesen nahe zu bringen. Gleich zu Beginn des neuen Jahrs sind zwei Sammelbände erschienen, großformatig, bunt und durch die robustere Ausstattung auch einem Kinderzimmersturm gewachsen, mit jeweils drei Geschichten samt den Rätsel-Lernspielen und Zusatzinformationen zum Inhalt. Da kann das Vergnügen gleich losgehen, denkt man, wäre da nicht – der jeweilige Titel und damit die Kategorie, nach der die Geschichten ausgesucht wurden.

Nun ist es nicht neu, dass die Lesemaus in Schubladen denkt. Aber, so fragt man sich, was macht denn nun im 21. Jahrhundert ein starkes Mädchen so anders als einen starken Jungen, dass die beiden unterschiedliche Geschichtensammlungen brauchen? Lesen wir die Geschichten.

Eine Erde – zwei Welten

Die Geschichten für die Bände wurden nicht neu geschrieben. Für die Mädchen gibt es eine Picknick-Hunde-Geschichte von Katja Reider, ein Pausenbrotproblem mit Augenzwinkern von Dagmar Hoßfeld und Spannung mit einem Schatz in der Badewanne von Sabine Ludwig. Die Jungen erleben einen Feuerwehreinsatz mit (Wolfram Hänel und Ulrike Gerold), dürfen ein Fußballcamp besuchen (von Imke Rudel) sowie als Pirat segeln (Christa Holtei).

Mädchen wie Jungen in den Geschichten sind aktiv, aufmerksam und müssen Probleme meistern, die ihr Alltag mit sich bringt. Das gilt selbst für Nachwuchs bei den Piraten. Schaut man genauer hin, so sind die Geschichten gemäß tradierten Geschlechterrollen konstruiert und erzählt. Das Leben der Jungen ist Abenteuer, Kampf, Sport. Alex rettet nicht nur ein Leben, er bekommt gleich Einblick in den Beruf von Feuerwehrleuten. Die kleinen Fußballer lernen Mannschaftsgeist in einem Camp fern von Zuhause und Tom das Rauben und Plündern gleich auf den Weltmeeren. Schon der Vorsatz des Buchs für Jungen ist sportlich-technisch-abenteuerlich illustriert. Hydrant, Notfallkoffer, Piratenflagge, Fußball.

Lesemaus - Starke Mädchen GeschichtenBei den Mädchen gibt es bunte Früchte, lächelnde Fische und – immerhin – die Taucherbrille. Allerdings gehört die Idas Bruder. In den Mädchengeschichten kommen Jungen als Handlungsträger vor, die Geschichten für Jungen sind nahezu weiblichkeitsfrei.

Auch sprachlich gibt es Unterschiede. Die Feuerwehrgeschichte ist für etwas geübtere Leser. Lange Wörter und Fachbegriffe finden sich im Text, das Ende ist ein wenig ironisch, insgesamt also eine Herausforderung. Im Fußballcamp ist die Sprache hin und wieder umgangssprachlich eingefärbt, mildere Schimpfwörter kommen vor. Bei den Mädchengeschichten vermisst man solche Vielfalt. Ida darf immerhin handgreiflich werden im Streit mit dem großen Bruder, aber am Ende hat sie etwas nicht sehr Gescheites angestellt und muss von Mama getröstet werden. Nele und Paula retten einen süßen Hund und werden Adoptivmütter für das Tier. Lilli möchte etwas ändern und fällt dabei auf die Nase. Mädchen, die neugierig in die Welt schnuppern, werden zurückgeschubst. Ihr Drang nach außen wird umgehend sozialverträglich eingebunden und umgeleitet. Im besten Fall werden sie vertröstet, im schlimmsten bestraft.

Die Titel der Bände treffen für die Jungen zu, für die Mädchen keineswegs. Die Titelbilder, die auch Bücher aus der Frühzeit der Kinderliteratur vor 150 Jahren zieren könnten, geben das punktgenau wieder.

Von Bildern und Didaktik

Bestechend an den Büchern sind die großzügigen Illustrationen. Tatsächlich machen sie aus Geschichten Bilderbücher. Da die Geschichten aus anderen Bänden stammen, sind auch die Zeichnerinnen und Zeichner jeweils andere. Für die Jungen illustrierten Jörg Hartmann, Jan Birck und Astrid Vohwinkel, für die Mädchen Karin Schliehe und Bernhard Mark, Gerhard Schröder sowie Miriam Cordes. Großflächig, detailliert, wunderschön bunt, von knuffig bis realistisch ist vertreten, was das Auge anregt. Die stilistische Vielfalt ist ein Genuss.
Rundum bebildert sind auch die Rätselseiten und die, in denen es um Sachinformationen geht. Für Bücher, mit denen man lesen lernen soll, ist das Bilderangebot allerdings bei Weitem zu reichlich. Dass die Jungen in großem Ausmaß fachliche und berufsspezifische Informationen bekommen, bei der Piratengeschichte sogar einen Aufriss eines alten Segelschiffs, die Mädchen sich aber mit Allgemeinplätzen zu Hundehaltung, Schatztauchen und dem Belegen von Sandwiches begnügen sollen, ist ein weiterer dieser Automatismen, die unverändert die Geschlechter auseinanderdividieren, obwohl wir doch alle so modern sind.

Fraglich ist schließlich, ob die Unterbrechung der Texte durch Lernspiele dem dient, was das Lesen von Geschichten ausmacht. Das ist nicht die Weitergabe von Information. Im Gegenteil werden damit Zusammenhänge, die erzählerisch wichtig sind, auf das Erlernen einiger weniger Fähigkeiten reduziert. Dass es Kinder Spaß macht, einfache Wörter zusammenzufügen und stolz diese Leistung vorzuführen, ist wiederum keine Frage. Nur ist Lesen eben auch Reflexion und nicht nur Sport. Kindern diesen Schritt nahezubringen, wäre die eigentliche didaktische Leistung.
So gesehen sind die beiden neuen Lesemaus-Sammelbände höchstens ein halbes Vergnügen. Alles bleibt beim Alten, die Mädchen hie, die Jungen da. Kulturtechnik Lesen, ja, schon. Bloß: Muss es immer noch von vorgestern sein?

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Reihe: Lesemaus zum Lesenlernen:
Starke Mädchengeschichte zum Lesenlernen
Mit Geschichten von Katja Reider, Dagmar Hoßfeld, Sabine Ludwig
| Leseprobe

Starke Jungs-Geschichten zum Lesenlernen
Mit Geschichten von Wolfram Hänel und Ulrike Gerold, Imke Rudel, Christa Holtei
| Leseprobe

Hamburg: Carlsen 2017
96 Seiten, je 5,00 Euro
Kinderbücher ab 7 Jahren

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