/

Dämmerzustand, dauerhaft

Gesellschaft | Sebastian Friedrich: Lexikon der Leistungsgesellschaft

Sie verwechseln da etwas, liebe Frau Merkel. Die Atmosphäre von behäbigem Wohlgefühl und gesättigter Gemächlichkeit ist nicht das, was politisch erstrebenswert wäre. Politik soll mutig sein, unbequem sein, sie will miserable Zustände verändern, sie will die Dinge beim Namen nennen. Von WOLF SENFF

So gesehen, Frau Merkel, sind Sie durchgefallen – was dem Fernsehzuschauer bereits am vergangenen Sonntag nicht verborgen blieb.

Lexikon der Leistungsgesellschaft 9783960420019Was zu tun wäre? Ein Sprung in kaltes Wasser? Wer nicht gleich so rigide Methoden anwenden möchte, dem wäre mit subtileren Ansätzen zu helfen, vielleicht dass er die Blickrichtung ändert – das wäre ein vorzüglicher Anfang. Das vorliegende Bändchen ›Lexikon der Leistungsgesellschaft‹ gibt dafür unterhaltsame Anstöße.

Kaffee zum Frühstück

Sechsundzwanzig Stichworte. Nein, wir erfahren nicht, nach welchen Kriterien sie ausgewählt wurden, und das ist auch reichlich gleichgültig. Der Bezug zum Thema Leistungsgesellschaft ist jedoch unbestreitbar. Im Rennrad zum Beispiel, einem dynamischen Statussymbol idealiter mit der deregulierten, besonders coolen Ausführung ohne Bremsen und ohne Schaltung, spiegele sich das selbstbestimmte, autonome Individuum – viel beschworenes Menschenbild neoliberaler Politik.

Sebastian Friedrich liefert dem Leser eine unterhaltsame Auswahl, nicht frei von Ironie und leichtem Spott. Ein ›Quantified Self‹ ist das Ziel der ›Self-Tracker‹; sie sammeln diverse Daten über sich selbst, um die eigene Persönlichkeit zu »optimieren«. Softwareprofis bieten Apps zwecks Erhebung diverser Daten an, und die ›Self-Tracker‹ posten ihre Messergebnisse und Entdeckungen in den Netzwerken.

Letzter Schrei ist ein mit Butter versetzter Morgenkaffee, der Konzentrations- wie Leistungsfähigkeit fördere – messbar fördere. An der korrekten Dosierung der Butter werde gearbeitet.
 
 

Alles läuft prächtig

Wir werden daran erinnert, dass der Marathonlauf sich frappierend parallel zu Globalisierung und Neoliberalismus ausbreitete. Während zu Beginn der siebziger Jahre an den ersten Marathonläufen in Berlin und New York etwa hundert Personen teilnahmen, seien es heute weit über vierzigtausend. Jeder Läufer trainiere seine Leistungs- und Leidensfähigkeit, die Laufapp-Zwischenresultate würden in den sozialen Netzwerken gepostet.

Mittlerweile werden Firmenläufe veranstaltet mit in Frankfurt/Main unlängst siebzigtausend Läufern. Hier verbinde sich das eigene Erfolgserlebnis mit der Zugehörigkeit zum Unternehmen, der öffentliche Charakter werde durch eine firmenbezogene Kultur substituiert. Seit neuestem wird eine deutsche Firmenmeisterschaft veranstaltet, und wir erfahren endgültig, wo das private Leistungsdenken sich zu Hause fühlt: Wir steigern das Bruttosozialprodukt.

Das Nackenhaar

Während der Lektüre, so unterhaltsam und charmant sie ankommt, sträubt sich mehr und mehr das Nackenhaar. Eine so simple Erscheinung wie ›Coffee to go‹ ist problemlos rückführbar auf neoliberale Grundwerte: Zeitgewinn, Mobilität, Dynamik. Nein, das gemütliche Kaffeehaus mit Polstersesseln, in die man sich zurücklehnte, um bei einem Tässchen Kaffee in aller Ruhe die geschäftige Welt zu studieren – dieses Kaffeehaus gibt es nicht mehr.

Wie gesagt, sechsundzwanzig Stichworte, die, liest man sie in einem Durchgang, uns erschrecken und unser Entsetzen auslösen darüber, wie unser Alltag kaum merklich verändert wird. Die sonst so umtriebige mediale Öffentlichkeit befindet sich in ihrer Wahrnehmung dieser Zustände leider in einem anhaltenden Dämmerzustand.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Sebastian Friedrich: Lexikon der Leistungsgesellschaft
Wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt
Münster: edition assemblage 2016
96 Seiten, 7,80 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

1 Comment

Schreibe einen Kommentar zu Buch: Lexikon der Leistungsgesellschaft (Edition Assemblage 2016) | Digitaler Schaukasten Antworten abbrechen

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Brève apparition en France – des vies en musique…

Nächster Artikel

Come Play The Game: An Interview With Rennie Foster

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Pamphlet im besten Sinne

Gesellschaft | Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand Seit einigen Monaten rauscht es gewaltig im deutschen Blätterwald. Die Schrift ›Der kommende Aufstand‹ eines namenlosen französischen Autorenkollektivs kritisiert ungeschminkt die Zivilisation westlicher Prägung, ausgehend von den Aufständen französischer Jugendlicher aus den Pariser Vorstädten. Seit seiner Veröffentlichung unterliegt das Werk einem heftigen Kampf um die ideologische Deutungshoheit: Linkes Politmanifest? Rechtes Ideologiekonzept? Terroristenhandbuch? Es ist an der Zeit, die weltanschauliche Voreingenommenheit über Bord zu werfen und den Blick auf die Inhalte zu lenken. Handelt es sich bei dieser Streitschrift tatsächlich um revolutionäre Gebrauchslyrik? Ist der Text eine Bestandsaufnahme westlicher Gesellschaften am Vorabend des Umsturzes?

Hangover City

Gesellschaft | Lutz Hachmeister: Hannover. Ein deutsches Machtzentrum »Hannover ist spektakulär langweilig«, beschied 2010 ein gewisser Tim Renner, der mittlerweile als staatssekretierender Fachmann für Spektakel in Berlin wirkt, und befürchtete eine »Hannovernication« der Berliner Republik infolge des ESC-Triumphs einer gewissen Lena aus Hannover. Für einen, der Hannover nicht weiter kennt, ist das keine rasend originelle, aber handelsübliche Sottise. Jetzt hat sich einer daran gemacht, Hannover zur (mehr oder weniger) heimlichen Exportkanone für Polit-Schwergewichte zu erklären, der immerhin als Kind öfter in den Ferien am Steinhuder Meer war, dem seines Wissens »Binnensee-Retreat der Hannoveraner«: Lutz Hachmeister, selbst ein Schwergewicht, nämlich des

Wie ein Schnellzug, der Wachstum und Wohlstand versprach

Gesellschaft | Philip Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent Preisträger Preis der Leipziger Buchmesse 2015 Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks vor 25 Jahren fand gleichzeitig das politische und wirtschaftliche System des Kommunismus sein Ende. Die neoliberale Transformation, die daraufhin in Osteuropa einsetzte, sorgte in den Staaten jenseits des »Eisernen Vorhangs« für ganz unterschiedliche Entwicklungen. Der Historiker Philip Ther hat sie analysiert und daraus als Bilanz die neue Ordnung Europas gezogen. Von STEFFEN FRIESE

Himmel und Hölle

Gesellschaft | Ulrich Beck: Die Metamorphose der Welt Ulrich Beck, ein erfolgreicher, renommierter Soziologe, starb im Januar vergangenen Jahres, er hat mit seiner These einer Risikogesellschaft wichtige Diskussionen angestoßen. Das hier rezensierte letzte Werk erscheint posthum. Von WOLF SENFF

Russische statt ukrainische Kampfdelfine

Gesellschaft | Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch »Was gerade auf dem Majdan passiert, ist unklar«, so schließt der Tagebucheintrag vom 9. Dezember 2013. – Der ukrainische Autor Andrej Kurkow, geboren 1961, wurde international durch seine humorvollen Romane bekannt, in denen er den absurden, turbokapitalistischen Alltag der seit 1991 unabhängigen Ukraine beschreibt. Die bekanntesten sind ›Picknick auf dem Eis‹, ›Der Milchmann in der Nacht‹ oder ›Die letzte Liebe des Präsidenten‹, ein Buch das seit neustem auf Russlands Zensurliste steht. Nun ist ein Auszug aus Kurkows Tagebuch, das er während der aufwühlenden letzten Monate geführt hat, auf Deutsch erschienen. Darin verfolgt, kommentiert, analysiert