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Die sechs Elemente der Kunst

Menschen | Kunst: Interview mit Timo Dillner (Teil II)

Im ersten Teil unseres Interviews mit Timo Dillner stand das Wesen der Kunst im Mittelpunkt. Heute unterhält sich FLORIAN STURM mit dem Künstler über poetischen Contineralismus und die Frage, warum man Künstler »wird«.

Ist der Gedanke von künstlerischer Freiheit in Ihren Augen falsch?
Er ist weder falsch noch richtig. Er ist absurd, bestenfalls abstrakt. Es gab diese Freiheit nie und sie fehlt auch jetzt. Nicht nur innerhalb der gültigen Gesetzesregelungen sind dieser Freiheit Grenzen gesteckt, sondern auch innerhalb moralischer Übereinkünfte und nicht zuletzt innerhalb ökonomischer Sachzwänge. Kein Künstler kann seine Kunst vollkommen frei schaffen. Bei Betrachtung dieses Themas kommt man ziemlich bald auf die Frage nach der Freiheit an sich, deren Antwort zum Ergebnis führt, dass 100-prozentige Freiheit sich selbst auslöscht, ergo inexistent ist.

Wie meinen Sie das?
Stellen Sie sich vor: Etwas, ein Ding, eine Handlung, ein Gedanke wäre völlig frei. Frei von Einschränkungen, Gesetzen, Kontrasten, Materie, Worten, Geist. Es gäbe keinen Anlass, keinen Schatten, kein Echo, keine Wirkung; denn alles, worauf gewirkt werden könnte, wäre eine Grenze, und Freiheit schließt Grenze aus. Um Freiheit sichtbar zu machen, muss sie sich von etwas anderem abheben und unterscheiden. Und damit ist sie nicht mehr frei. Freiheit gibt es immer nur in Bezug auf etwas.

Für mich ist das Argument der künstlerischen Freiheit hauptsächlich eine Entschuldigung für so unerfreuliche Sachen wie Anmaßung, Pfuscherei und Inkompetenz. Ein wirkliches Kunstwerk hat es nicht nötig, sich auf künstlerische Freiheit zu berufen.

Was ist der poetische Contineralismus?
So bezeichne ich meinen eigenen Stil, dessen Basis die von mir gefundene Definition bildet. Contineralismus (von lat.: continere = beinhalten, zusammenhalten) meint eine Kunst, in der alle sechs Elemente enthalten sind, die ich als Voraussetzung eines Kunst-Seins erkannt habe: Wahrnehmbarkeit, Persönlichkeit, Wissenschaft, Experiment, Wirkung und Botschaft.

Das bindet nicht an ein einzelnes Genre, sondern gewährt die Freiheit (!), sich künstlerisch mittels jeden Mediums auszudrücken. Ob Malerei, Grafik, Plastik, Multimedia, Theater, Musik oder andere. Ich bin als Künstler nicht Maler, Grafiker oder Bildhauer, sondern Contineralist.

Es könnte einen abstrakten Contineralismus geben oder einen impressionistischen. Mein persönlicher ist der poetische, weil meine Arbeiten die Vertonung von Gedanken sind. Oft unterstreiche ich das dadurch, dass ich meinen Werken neben ihren Titeln tatsächlich Gedichte zur Seite stelle.

wann
bist du
der du warst
gewesen?
wer bist du
jetzt und
hier?
an welchem selbst
kann je
dein selbst
genesen
und welches selbst
ist heut bei deinem
selbst
und dir?
Timo Dillner

Warum diese Symbiose aus Bild, Titel und Text?
Dieses Konzept entwickelte sich um die Jahrtausendwende. Ich habe oft festgestellt, auf wie vielen unterschiedlichen Ebenen ein einziger Bildinhalt gedeutet wird und begann schließlich damit, den Titel eines Werkes ganz bewusst zur Überhöhung oder Kontrapunktierung des von mir dargestellten Sujets zu bearbeiten. Es ist immer wieder verblüffend zu sehen, wie anders ein scheinbar simples Bild besprochen wird, wenn es einen provozierenden Titel trägt. Das ist nicht meine eigene Erfindung und wird seit hundert Jahren praktiziert.

Doch die direkte und in allen Varianten stets erneuerte Erfahrung dieser Tatsache brachte mich endlich auf die Idee, die Gedanken, die ich vor, während und nach der Gestaltung einer Malerei hatte, ihr in Form eines kurzen Gedichtes zur Seite zu stellen. Dabei machte ich zwei Entdeckungen: Erstens bildete die Konstellation aus Bild, Titel und Gedicht eine Art Bermudadreieck, in dem ein Betrachter sich lange Zeit verlieren und wiederfinden konnte. Das scheinbar leicht deutbare Bild verändert sich, wenn man den Titel hinzunimmt. Liest man dann das Gedicht, bekommen sowohl Bild als auch Titel einen neuen Sinn. Und damit liest man das Gedicht wieder mit anderen Augen.

Zweitens stellte ich fest, dass die Gedichte von vielen Betrachtern sogar höher geschätzt wurden als meine Bilder, die nun wiederum ihrerseits von den Gedichten profitierten. Tatsache ist auf jeden Fall, dass die Gedichte ebenso wenig Erklärungen für die Bilder sein sollen wie die Bilder Illustrationen der Gedichte. Beide entstehen gleichzeitig und parallel zueinander.

Nehmen Sie den Betrachtern Ihrer Werke dadurch nicht die Deutungshoheit oder -freiheit?
Der Kunde ist König. Selbst wenn das im Geschäftsleben nicht immer der Fall ist, so stimmt es doch wenigstens für die Kunst. Die Deutungsfreiheit bleibt sowohl von meiner Definition als auch von meiner Bermuda-Kombination unberührt. Mit Titel, Bildinhalt und Gedicht gebe ich einer Deutung zwar Anhaltspunkte und eine gewisse Richtung (ich sehe das als Künstlerpflicht), aber ich mache keine Vorschriften. Kunst bleibt immer interaktiv, d.h., dass ich einen Teil des Puzzles oder des Dialoges liefere, der Betrachter den anderen.

Warum sind Sie Künstler geworden?
Eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. Da war immer ein Interesse, vielleicht auch eine besondere Fähigkeit, Kunst wahrzunehmen. Und zugleich immer ein Drang zur Kreativität, oft ein Staunen darüber, dass von mir geschaffene Dinge Anerkennung fanden, obwohl sie mir selbst nicht genügten.

Aber da war nie der Vorsatz, mit Kunst mein Brot zu verdienen oder gar Künstler zu werden. Doch spätestens während des Studiums und intensiver während meiner Arbeit in den Brandenburgischen Kunstsammlungen Cottbus begann etwas zu wirken, das ich mangels besseren Ausdrucks einfach meine Biografie nennen will: Sie führte mich an den Punkt, an dem ich jetzt stehe. Als Künstler.

Sie wanderten 1998 mit ihrer Frau und zwei Kindern nach Portugal aus und leben seitdem an der Algarve. Warum haben Sie Deutschland verlassen? Hatte das »künstlerische Gründe«?
Die Beweggründe waren vielgestaltig. Es drängte uns nach Veränderung, nach Neubeginn. In uns wuchs die Unzufriedenheit darüber, wie sich das wiedervereinigte Deutschland in den ersten Jahren entwickelte. Und dann ist man irgendwann auch in dem Alter, in dem man sich sagt: jetzt oder nie!

Tomi Dillner: Selbstfindung oder: Das Erstaunen Öl/Lw - 2013 - 100 x 81 cm
Timo Dillner: Selbstfindung, oder: Das Erstaunen
Öl/Lw – 2013 – 100 x 81 cm

Sie waren damals 31 Jahre alt.
Richtig. Dieser große Schritt sollte geschehen, ehe unser damals sechsjähriger Sohn in die Schule kam. Überall war die Rede von Europa, und es klang damals nach einem Traum, den zu realisieren einfach fantastisch sein würde. Die Idee, Europa – nicht mehr Deutschland – als Heimat zu begreifen, hatte etwas Faszinierendes. Wir ergriffen also die Möglichkeit, innerhalb Europas auf Arbeitssuche zu gehen. Das gab uns für den Beginn eine gewisse Sicherheit. Deutschland wirklich verlassen habe ich in dem Moment, als ich hier ankam: Ich habe mich sofort in Land und Leute verliebt.

Wie gestalteten sich Ihre beruflichen Anfänge in der neuen Heimat Lagos?
Ich versuchte zunächst, nicht von der Kunst leben zu müssen, arbeitet unter anderem in einer privaten Galerie, in einem Maklerbüro und für eine Zeitung, bevor ich realisierte, dass das so nicht funktionierte. Die finanzielle Sicherheit, die ich mir in einem geregelten Monatseinkommen wünschte, blieb ein Wunsch, und für die Kunst blieb kaum noch Zeit. Wir stellten schließlich fest, dass man sich hier, bei einiger Fertigkeit, mit Kunsthandwerk über Wasser halten kann. Und das war dann eine Möglichkeit des Geldverdienens, die es mir erlaubte, wieder mehr Zeit und Energie dem Malen und dem Schreiben zu widmen.

Startschwierigkeiten gab es natürlich reichlich. Abgesehen davon, dass ich mir mein Selbstverständnis als Künstler hier eigentlich erst erarbeitet habe, musste ich mit der Sprache zurechtkommen und mich mit den hiesigen Gepflogenheiten vertraut machen. Aller Anfang ist schwer. Deswegen freue ich mich umso mehr darüber, dass ich inzwischen wirklich als Lagoser Künstler gelte, der nur zufällig aus Deutschland kommt.

Lebt es sich in Portugal als Künstler anders als in Deutschland?
Es lebt sich hier generell anders. Das hat nicht so viel mit Wetter und Meer zu tun, wie viele denken. Es lebt sich einfacher. Obwohl manche Dinge teurer sind als in Deutschland, benötigt man insgesamt doch viel weniger. Viele kulturelle Veranstaltungen, sogar auf höchstem Niveau – von Kolloquien und Filmvorführungen über Klassikkonzerte bis hin zu Ausstellungen in Museen, Galerien oder Kulturzentren – kosten wenig oder gar nichts. Viele dieser Angebote lassen sich freilich nur nutzen, wenn man die Sprache einigermaßen beherrscht – nicht nur, um inhaltlich folgen zu können, sondern auch, weil viele Veranstaltungen oft nur von portugiesischen Medien beworben werden und man in englisch- oder deutschsprachigen Zeitungen nichts davon erfährt.

Einen relativ gleichmäßigen Zustand von Zufriedenheit, den man sich in Deutschland mehr und mehr erkaufen muss, kann man hier noch als Selbstverständlichkeit erleben. Aus diesem Zustand entsteht meine »künstlerische Freiheit«. Ich habe also für mein Kunstschaffen meistens beide Hände und vor allem den Kopf frei. Ich male und dichte, um meine Gedanken zu Welt und Leben zu formulieren und Wege zu finden, diese Gedanken ins Gespräch zu bringen.

Außerdem ist der Kunstbetrieb hier noch nicht so extrem kommerzialisiert und durchorganisiert. Was Präsentationsmöglichkeiten angeht, gibt es viel größere Freiräume. Von daher kann ich sagen: Ja, es lebt sich in Portugal als Künstler anders als in Deutschland. Für mich kann ich dieses »anders« als »besser« übersetzen.

| FLORIAN STURM
| Fotos/Abbildungen: TIMO DILLNER
| Titelbild: TIMO DILLNER: Der Traum Öl/ Hf, Eiche, Sperrholz – 2017 – 94 x 89 x 15 cm (Ausschnitt)

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| Teil I des Interviews in TITEL kulturmagazin
| Teil III des Interviews erscheint nächsten Samstag in TITEL kulturmagazin

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