Zweite Chance

Jugendbuch | Alice Gabathuler: Hundert Lügen

Opfer bösen Tuns haben ein Leben lang an den Folgen zu tragen. Geraten sie zum zweiten Mal in Bedrängnis, kann der psychische Stress übermächtig werden und eine Katastrophe auslösen. Oder den Weg zur Heilung öffnen. Alice Gabathuler schreibt darüber anerkennenswert differenziert. In einem Jugendkrimi – den MAGALI HEIẞLER gelesen hat

Gabathuler - Hundert Lügen - 9783522202312Kris ist siebzehn, seine Familienverhältnisse sind verwickelt. Er gibt sich die Schuld daran. In seiner Kindheit ist etwas Böses geschehen. Zuweilen ist er ganz sicher, dass er weiß, was damals passiert ist. Dann wieder verschwimmt alles in unklaren Gefühlen. Vor allem aber schmerzt es. Darüber sprechen möchte er nicht. Tatsächlich wüsste er nicht einmal, was er sagen sollte.

Als er unvermutet aus dem Internat nach Hause verfrachtet wird, wird alles nur schwieriger. Zuhause trifft er seine Schwester Manon. Zehn Jahre haben sie sich nicht gesehen. Manon war dabei, damals, als das geschah, was Kris nicht zu fassen bekommt. Richtig erinnern kann sie sich auch nicht. Aber die beiden haben ohnehin verlernt, miteinander zu sprechen.
Die Situation im Haus ihres Vaters überrascht sie nur mäßig. Ihr Vater wird bedroht, die Familie mit ihm. Das ist wenig verwunderlich bei seiner Tätigkeit als skrupelloser Unternehmensberater. Woher die Bedrohung rührt, ist auch schnell klar, eine radikale Gruppe, die sich dem Umweltschutz widmet, hat die Familie aufs Korn genommen.

Sobald die ersten Schüsse gefallen sind, ist allerdings gar nichts mehr klar. Ein hässlicher Verdacht fällt auf Kris. Er muss sich wehren, aber hat er nicht als Kind die Erfahrung gemacht, dass, wer sich wehrt, nur Schlimmeres verursacht?

Von Drachen, Prinzessinnen und dem bösen König

Gabathuler macht es ihrem Publikum nicht leicht. Mehr als die Bereitschaft, sich auf sie einzulassen, fordert sie aber nicht. Die Bereitschaft muss allerdings umfassend sein. Wer das wagt, wird reichlich belohnt.

Erzählt wird abwechselnd von Kris und von Manon. Ihre Blickwinkel sind beträchtlich eingeschränkt. Das liegt nicht nur an ihren jungen Jahren, sondern auch daran, dass sie als Kinder einen solchen Schock erlitten haben, dass sie sich tief in sich zurückgezogen haben. Ihre kindliche Märchenwelt ist unverändert ein Bezugspunkt, ein guter Drache, eine Prinzessin. Zugleich ist diese alte Kinderloyalität ein Anknüpfungspunkt für eine neue Beziehung. Diese Vorstellung nutzt die Autorin feinsinnig.

Komplex ist auch die enge Verbindung zwischen der Vergangenheit der Familie und dem Jetzt. Tatsächlich geschieht etwas ein zweites Mal, wodurch der Weg zur Lösung wie zur Heilung geöffnet wird. Das zu erkennen, ist die größte Herausforderung für das Geschwisterpaar und nicht minder für die Leserinnen. Denn nach zwei Sätzen schon befindet man sich in einem Labyrinth von aktuellem Geschehen, Erinnerungen, Assoziationen, Ängsten, Ausweichmanövern und starken Gefühlen. Gabathuler legt falsche Fährten, dass es eine Lust ist, und punktet dazu mit raffinierten Finten.

Das ist kein müßiges Spiel, geht es doch um Lügen in dieser Geschichte, große Lügen. Sie sind dicht gewebt worden vom Hauptverursacher des Übels, schrecklich klebrig und alle Beteiligten sind darin gefangen. Mit den Hauptfiguren lässt Gabathuler eine erkleckliche Zahl weiterer Personen auftreten, die allesamt ihre Rolle zu spielen haben. Wer auf wessen Seite steht, wer wen liebt oder hasst, schützt oder bedroht, ist nicht leicht herauszufinden. Vor allem ändert sich das Bild immer wieder. Ein Verdacht der Leserin, selbst nach gründlichem Nachdenken geschöpft, kann sich zwei Sätze später schon als Irrtum entpuppen. Die Rätsel häufen sich in dem Maß, in dem die Spannung steigt. Die Lösung mitsamt allen Hintergründen steht dem in nichts nach, ein zusätzliches Plus dieses Romans.

Anständig leben

Auch wenn die Krimihandlung sehr farbig und oft ins Extrem getrieben daherkommt, gehen die Themen, die Gabathuler am Herzen liegen nicht unter. Es geht um ethische Grundfragen in diesem Krimi, um Gut und Böse. Um Macht. Es geht um Moral, um Anstand, Verantwortung und Fürsorge. Gabathuler ergreift Partei. Das schadet hier nicht im Mindesten, weil ihre Hauptfiguren in ihren Überzeugungen alles andere als sicher sind. Es sind Jugendliche auf der Suche, nach sich, dem Sinn ihrer Taten wie auch dem des Lebens. Sie haben dabei das schlimmste Vorbild von allen, einen rücksichtslosen, reichen, mächtigen Vater.
Die übliche Trivialisierung, eine solche Figur zu dämonisieren, findet man hier nicht. Im Gegenteil wird dieser Vater, der böse König, sehr zurückgenommen. Auseinandersetzen muss man sich mit den Folgen seiner schlimmen Taten. Auch hier also Komplexität statt Gefühligkeit, anspruchsvoll im Vergleich zu dem, was der Krimimarkt sonst zu bieten hat für die Altersgruppe.

Die Sympathie der Autorin liegt unstreitig auf der kleinen Gruppe junger Menschen, die so fest entschlossen sind, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Man sollte ihre Auftritte sorgfältig lesen und sich nicht zu vorschnellen Urteilen hinreißen lassen. Es ist so ungewohnt geworden, einfachen Anstand zu erkennen, ihn nicht zu ironisieren, sondern zu akzeptieren. Er ist keineswegs aus der Zeit gefallen, er ist notwendiger denn je.

Darüber hinaus wirft Gabathuler die stets unangenehme Frage auf, ob der Zweck die Mittel heiligt, ob Gewalt mit Gewalt beantwortet werden muss und welche schrecklichen Abhängigkeiten Macht und Geld schaffen. Selbst wenn man das Buch vornehmlich als Spannungslektüre genießt, kommt man darum nicht herum. Das ist auch recht so. Warum soll Konsequenz sich nur auf Buchseiten abspielen. Sie wird auch im ganz normalen Leben gebraucht. Dafür ist das Ende dann niedlich rosig. Aber nicht unmöglich. Immerhin.

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Alice Gabathuler: Hundert Lügen
Stuttgart: Thienemann 2017
302 Seiten. 12,99 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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