/

Die Forschung hebt ab

Kulturbuch | Volker Roelcke: Vom Menschen in der Medizin

Nein, Schmerzen, das wäre nicht so sehr meins. Wenn ich versuche, einen Nagel in den Tisch zu schlagen, wird mich das nicht zum Fachmann in Sachen Schmerz befördern. Doch das Thema ist aufschlussreich, es wirft die Gewichtungen der medizinischen Forschung über den Haufen, und das ist offensichtlich gut so. Von WOLF SENFF

V Roelcke - Vom Menschen in der Medizin - 9783837926903Man hat den Eindruck, Volker Roelcke zeigt gründlich und überzeugend, dass sich die gegenwärtige Medizin umorientieren muss, wenn sie nicht in einer Sackgasse enden will bzw. aus der Sackgasse heraus finden will, in der sie steckt.

Er verweist auf eine Debatte der zwanziger und dreißiger Jahre, ausgelöst durch einen Aufsatz Ferdinand Sauerbruchs, in dem dieser auf die Grenzen der Wissenschaft in der Behandlung erkrankter Menschen hinwies.

Grenzen der Wissenschaft

Eine Medizin, so Roelcke, die sich auf das theoretische und methodische Repertoire von Natur- und Technikwissenschaften, auf Informatik und Statistik reduziere, bleibe kurzsichtig. Bestenfalls werde eine Krankheit erforscht, aber der kranke Mensch werde nicht erfasst. Das ist ein kleiner, aber feiner und folgenschwerer Unterschied.

Die Naturwissenschaften sind hilflos, sobald sie nicht über zähl- und messbare Daten und Resultate verfügen. Wir erinnern uns an all die so aufgeregt piependen und blinkenden bunten Apparaturen am Krankenbett.

»Schulmedizin«

Schmerz ist ein Beispiel, an dem die Unzulänglichkeiten eines naturwissenschaftlich orientierten Verständnisses von Medizin klar werden. Schmerz ist nicht quantifizierbar: weder messbar noch zählbar, Schmerz wird höchst subjektiv empfunden, die Reaktion auf Schmerzen fällt oft nicht nur individuell, sondern auch durch den jeweiligen kulturellen Hintergrund sehr verschieden aus.

Das ist Roelckes zentraler Vorwurf gegen eine traditionell orientierte Medizin, die sich auf naturwissenschaftliche Diagnose- und Therapieverfahren gründe. Sie sei reduziert, weil sie darauf verzichte, den Patienten mitsamt seiner Krankheit auch aus dessen Lebenszusammenhängen zu verstehen.

Soziale Kontexte

Doch Schmerz ist keine Krankheit, und Roelcke belässt es nicht bei diesen Bemerkungen. Aus seiner Position heraus, dass die wissenschaftliche Medizin einseitig sei und maßgebliche soziale und kulturelle Zusammenhänge nicht erfasse, dekonstruiert er das westliche Hirntod-Konzept, das seinerseits auf Wissenschaftlichkeit gründe. Krankheit wie Tod würden als objektivierbare, messbare Phänomene betrachtet.

Für Volker Roelcke ist das eine falsche, weil reduzierte Sichtweise, er verweist auf Beispiele aus der hinduistischen Mythologie und eines afrikanischen Volksstamms, bei dem der Tod als Teil einer sozialen Ordnung rituell herbeigeführt, begleitet und formalisiert werde.

Labormedizin

Detailliert zeichnet er die Entwicklung von Tierversuchen und schließlich der medizinischen Forschung am Menschen nach, das eine wie das andere finde in Laboren statt, und beides strebe nach objektivierbarem Erkenntniszuwachs. Dieser könne jedoch nicht per se als Ziel gelten, sondern müsse infrage gestellt werden, zumal bei der Erforschung einer Krankheit die Sorge um menschliche Versuchspersonen prinzipiell in den Hintergrund trete.

»Unser Leben ist begrenzt,/ doch das Wissen ist grenzenlos./ Gefährlich ist’s,/ dem Grenzenlosen nachzugehen/ mit dem, was Grenzen hat.«
Zhuangzi (369-286 v. Chr.)

Sinnvoll sei, den potentiellen Wissenszuwachs im Vorwege an einem Erwartungshorizont zu orientieren. Dabei müsse die Individualität des Patienten und seiner Erkrankung im Mittelpunkt stehen, um die Gefahr einer verselbstständigten medizinischen Praxis zu vermeiden.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Volker Roelcke: Vom Menschen in der Medizin
Für eine kulturwissenschaftlich kompetente Heilkunde
Gießen: Psychosozial-Verlag 2017
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Folkdays… Strong and fragile at the same time

Nächster Artikel

Shape The Future Before It Shapes You: New Album Reviews

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Besorgte Juristen

Gesellschaft | O. Depenheuer, C. Grabenwarter (Hgg.) Der Staat in der Flüchtlingskrise – Zwischen gutem Willen und geltendem Recht Langsam dämmert es nicht nur den wachen Zeitgenossen: Die Fluchtbewegung, die jetzt auch bis zu uns führt, ist kein Intermezzo, sondern wohl Vorbote künftiger massiver Migrationen – Stichwort Klimawandel. Eine knackige Herausforderung, für die humanitären Kräfte einer Zivilgesellschaft wie für ihre demokratischen Fundamente, zumal in Zeiten des viralen Alarmismus. Gut, wenn sich Experten die Lage mal gründlich ansehen. Von PIEKE BIERMANN

Ohne Worte

Gesellschaft | Pandemische Welt-Schau

Bücher sind voller Wörter, voller Worte, voller Inhalt, außer es handelt sich vielleicht um Bilderbücher oder Bildbände. Dieses Buch ist ein besonderes: Es kommt mit all seinen Bildern und Zeichnungen nicht nur ohne Worte aus, sondern es berührt alle Sinne, von Angst bis Humor, von Schrecken bis Zweifel und Hoffnung. Karikaturen sprechen oft Bände, ohne ein Wort zu sagen. BARBARA WEGMANN hat sich das Buch angeschaut.

Schwarzfüßler und Beurs

Gesellschaft | Frankreich Dem Wanderer zwischen zwei Kulturen fällt bei seinen häufigen Grenzüberschreitungen nach rechts des Rheins bzw. innerhalb von Gesprächen immer wieder auf, wie fragend Deutsche selbst in unmittelbarer Nachbarschaft auf Begriffe wie ›Pieds-noirs‹ oder ›Beurs‹ reagieren, genauer, ihnen diese in letzter Zeit häufiger auch in deutschsprachigen Medien auftauchenden Wörter nahezu ausnahmslos nicht bekannt sind. Von DIDIER CALME

Europa? Europa!

Gesellschaft | Svenja Bromberg, Birthe Mühlhoff, Danilo Scholz (Hg.), Euro Trash Wer in den Nachrichten hören muss, dass der Internationale Währungsfonds IWF die »baldige Erhöhung des Renteneintrittsalters in Deutschlandt« ja, genau: »fordert«, fragt sich unwillkürlich, in welche Richtung Demokratie arbeitet. Oder nicht? Hat Politik zu viel Balltreterei gesehen und lernt vom Umschaltfußball, sie wechselt die Richtung und produziert neuerdings ganz unverhohlen die Meinung von oben nach unten? Von WOLF SENFF

Die Freude am Spiel wird geklaut

Gesellschaft | Dilger / Fatheuer / Russau / Thimmel: Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie Südafrika 2010 sind »die Einnahmen der Fifa gegenüber der letzten WM in Deutschland im Jahr 2006 um mindestens fünfzig Prozent gestiegen«. Da wussten sie doch, die Brasilianer, was sie erwarten würde. Oder? Aber Lula, bis 2010 Präsident Brasiliens, war offenbar närrisch, wenn es um Fußball ging. Von WOLF SENFF