Lyrik | Anette Hagemann: Gedichte
In Tuwa
Zwei Straßen nur führen nach Kysyl, und es reiten dort
die Jungen und die Alten einhändig auf den Pferden:
Als geschmeidige Zentauren bewegen sie sich durch die
Steppe, die so weit ist, wie die Gesänge kehlig klingen und
der Blick mancher Augen ins Unabsehbare geht – umgeben
von Falten, verschmitzt, wie geschnitzt, genauso wie die
Seen hier von Zweigen und Strauchwerk umgeben sind.
Und manchmal gurren die Kamelkälber am helllichten
Tag wie geschwätzige Uhus und in der Hauptstadt
gründen die Schamanen Gemeinschaftspraxen
Insektendompteur
Du sagtest Sätze wie »Ich bin der Tinnitus im
Ohr der Geschichte« oder »Ich wehre mich
vergeblich gegen alle Instanzen« oder auch
»Käfer sind meine Armee zum Glück«, während
du die Ameisen (die keine Käfer sind) auf
der Küchenanrichte beobachtetest, wie
sie in Kolonnen zum Brotkasten liefen.
Als du dann im letzten Jahr verstummtest
und nur noch Papiere aus der Truhe heraus
und in die Truhe hinein sortiertest, habe ich
dich vermisst. Und noch ein zweites Mal, als
auch dein Körper starb und mir nur die lange
gesammelten Zettel und Schmetterlingsflügel,
in ihrem schwarz-bunten Staub liegend, blieben.
| ANETTE HAGEMANN
Annette Hagemann, geb. 1967 in Münster/ Westfalen, lebt und arbeitet in Hannover. Die zwei hier veröffentlichten Gedichte sind ein Vorabdruck aus der WORTSCHAU, sie wurden uns dankenswerterweise von der Redaktion zur Verfügung gestellt.