Ein Roadtrip zu sich selbst

Film | Im Kino: Vielmachglas

Marleen hat es nicht leicht neben ihrem interkulturell versierten Bruder. Während er anscheinend einen Lebensplan hat, kann sie sich nicht mal für das passende Studienfach entscheiden. Lieber jobbt sie im Kino und gibt über 1.000 Euro für einen gebrauchten Ledersessel aus, um darin lesend »herumzugammeln«. Als ihr Bruder mal wieder nach Hause kommt, verzaubert er ihre Eltern mit seinen exotischen Geschichten aus Südamerika. Marleen langweilt sich. Doch am nächsten Tag geschieht etwas, das sie nicht einordnen, geschweige denn verarbeiten kann. Wie weit es Marleen aus der Bahn wirft und ob noch etwas anderes passiert, findet ANNA NOAH heraus.

Das Unglück als Impuls zur Selbstfindung

Kino Vielmachglas 2018Marleen (Jella Haase) liegt im stetigen Wettstreit mit ihrem Bruder Erik (Matthias Schweighöfer). Der ist ihrer Meinung nach in allem besser, macht etwas aus sich und seinem Leben und hängt sich voll rein. Als Entwicklungshelfer, Bergsteiger und Surflehrer hat er schon vier Kontinente der Welt besucht – und jetzt schreibt er auch noch ein Buch!

Bei einem seiner Besuche schenkt er Marleen das titelgebende »Vielmachglas«. Verbunden mit der Aufforderung, sie solle nicht nur daheim herumsitzen, sondern Dinge tun, diese aufschreiben und die Zettel in das Glas legen. Von dieser Idee ist Marleen zunächst weniger begeistert – bis eine Katastrophe ihr Leben aufrüttelt. Danach will sie einfach nur weg von daheim. Und das Ziel könnte verrückter nicht sein – auf einem Schiff in die Antarktis. So packt sie eine Zahnbürste und wenige nicht besonders warme Klamotten in einen Rucksack, damit die Reise ins Ungewisse beginnen kann.

Doch wie soll sie mit acht Euro in der Tasche quer durchs Land nach Hamburg kommen?
Das schafft sie zusammen mit der durchgeknallten Zoë, die sie erst bei den Mitfahrgelegenheiten kennenlernt, einem noch verrückteren LKW-Fahrer mit Flinte, vor dem sie einer Ziege das Leben rettet, einem Rentnerbus (Ilka Bessin in einer Nebenrolle als Busfahrerin), in den die Ziege hineinpinkelt und dem Fotografen Ben.

Ben, der Heilige

Ben ist ein Mysterium. Er scheint immer aufzutauchen, wenn Marleen gerade in der Klemme steckt und sich intensiv mit ihrem Glas beschäftigt. »Wieso redest du eigentlich immer mit diesem Einmachglas?«, möchte er wissen.

Vorsicht, Spoiler!!
Das Glas ist ihre einzige verbleibende Verbindung zu ihrem Bruder, der bei dem schrecklichen Unfall ums Leben kam und wegen dem Marleen von daheim wegrannte, um seine Fahrkarte für die Überfahrt auf die Antarktis an seiner Stelle einzulösen.

Unablässig zeigt Ben Marleen die schönen Dinge des Lebens, macht Fotos von ihr in der einigermaßen romantischen Atmosphäre einer Glühwürmchenwiese – und ist einfach für sie da. Fast stoisch erträgt er ihre Art, Dinge gehörig zu vermasseln. Sei es eine Barprügelei in einem Motel – oder ein vorhergehender, spontaner Gefühlsausbruch, in dem sie ihn sehr unfair beleidigt. Letztendlich, als sie zu spät im Hafen von Hamburg ankommt, zeigt er Marleen den Weg zu sich selbst. Geduldig erklärt er ihr, dass Abenteuer sich nicht unbedingt auf anderen Kontinenten abspielen müssen, sondern, dass es dafür auch hierzulande eine Menge Raum gibt.

So dürfen Marleen und der Zuschauer erkennen, dass sie jahrelang dem Ideal ihres Bruders hinterhergerannt ist, aber selbst ein ganz anderes, nicht weniger starkes, Potenzial in sich trägt.
Leider bleiben die Eltern der Geschwister Ruge ziemlich blass gezeichnet. Natürlich sind sie nicht die Hauptdarsteller, aber manche Reaktionen sind im Rahmen dessen, was ihnen passiert, einfach unglaubwürdig.

»Das ist kein Einmachglas, das ist ein Vielmachglas.«

So füllt sich Marleens »Vielmachglas« erst spät – im Hafen von Hamburg. Passenderweise schreibt sie ihre bis dahin bei ihrem Roadtrip erlebten Abenteuer auf Zettel, die sie aus einem Atlas herausreißt.
Der Zuschauer darf sich am Schluss mit der Frage auseinandersetzen, wie viel Abenteuer der Einzelne erträgt und vor allem, wie der Begriff Abenteuer für das Individuum definiert ist.

Letztendlich wirft der Regisseur Florian Ross in ›Vielmachglas‹ eine altbekannte Frage auf: Was will ein junger Mensch mit seinem Leben anfangen? Daran schließen sich naturgemäß weitere unausgesprochene Themen des Erwachsenwerdens an:

  • Will man sich auf Abenteuer – welcher Art auch immer – einlassen, auch wenn es unliebsame Schrammen gibt? Lohnt sich das überhaupt?
  • Kann man Menschen vertrauen, egal wie verrückt sie augenscheinlich wirken?
  • Gehört Nestflucht wirklich immer zur Veränderung vom Jugendlichen zum Erwachsenen?

Antworten darauf muss der Zuschauer für sich selbst herausfinden. In diesem Sinne ist es ein gelungener Film, der jedoch mit einigen zu vielen unwirklichen Zufällen seine Handlung vorantreibt.

| ANNA NOAH

Titelangaben
Vielmachglas
Regie: Florian Ross, Drehbuch: Finn Christoph Stroeks
Darsteller:
Matthias Schweighöfer: Erik Ruge, Jella Haase: Marleen Ruge
Uwe Ochsenknecht: Peter Ruge, Juliane Köhler: Doris Ruge
Marc Benjamin: Ben, Ilka Bessin: Busfahrerin
u.v.a.
Kamera: Felix Novo de Oliveira

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