//

Schöne neue IT-Kultur

Kulturbuch | Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit

Algorithmen von Suchmaschinen sortieren meine Aktivitäten zu einem Persönlichkeitsprofil und lassen Werbespots auf mich los wie blutrünstige Kampfhunde. Ich blättere nach einem Gebrauchtwagen und werde von unerwünschten Anbietern belästigt. Ich suche eine Unterkunft in Mecklenburg, und diverse Anbieter stellen mir erneut wochenlang nach, mein Konsumverhalten wird überwacht. Von WOLF SENFF

Pörksen - Gereiztheit Wo anders gibt es derartige Geschäftspraktiken? Mich telefonisch heimzusuchen ist verboten, nun hilft das Internet, in meinen Alltag einzudringen. Die Apple, Windows & Co. haben mir eine Software angehängt, die ihnen private Räume öffnet und mit der sie massiv Rubel einfahren, und genau so selbstherrlich treten sie ja auf, die Thiel, Zuckerman & Co.

Ein Kulturbruch

Ihr Absatz floriert, sie führen die Welt aufs Glatteis. Missliche Konsequenzen sind ihnen schnuppe. Politik wird von ihnen am Nasenring durch die Manege geführt, für Schäden haftet der Steuerzahler. Erfolgreich? Nein, abgesehen von Thiel, Zuckerman & Co. sollte niemand von einem erfolgreichen Geschäftsmodell reden.

Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler, geht das Thema aus seiner eigenen Sicht vermutlich grundsätzlicher an, das Aufkommen der Digitalisierung sei ein medialer Kulturbruch, neben den traditionellen Medien entstehe eine fünfte Gewalt, die nicht nur eine Flucht in private Wirklichkeitskonstruktionen anbiete, sondern darüber hinaus eine diffuse Öffentlichkeit mit bisher unbekannter Bandbreite schaffe mit Platz für Wirklichkeitsentwürfe, die von Ideologien eingefärbt seien, aber auch Platz für separate Kampagnen böten vom Shitstorm und Trollerei bis hin zur erfolgreichen Umweltaktion.

Informationelle Selbstbestimmung

Diese Öffentlichkeit intensiver Diskursaktivitäten sei qualitativ neu, Pörksen charakterisiert sie als Empörungsdemokratie, die Medienmacht sei heutzutage überall, sie habe sich gewissermaßen demokratisiert, sie agiere mit atemberaubender Geschwindigkeit, einst festgefügte Hierarchien seien eingeebnet, anstelle des zentral ausspähenden Überwachungsturms gebe es eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich gegenseitig auszuforschen. Die Wirklichkeit sei transparent, und das habe nun einmal gute wie schlechte Auswirkungen. Wo er recht hat, hat er recht. Doch besonders tiefschürfend klingt das nicht.

Einhergehend mit dem tendenziellen Verlust informationeller Selbstbestimmung fürchtet er um einen generellen Verlust von Autorität und hält die fortwährende Enttäuschung und die Wut über das behauptete moralische Versagen der politischen Eliten bereits für den Ausfluss dessen, was er Fünfte Gewalt nennt.

Schmetterlingseffekt

Leider verfestigt sich der Eindruck, Pörksen sei selbst von der Erregung ergriffen, von der er seine Leser befreien will. Das ist nicht eben förderlich. Klagen um rasante Beschleunigung lasen wir vor einigen Jahrzehnten bei Paul Virilio, und das Einbringen von Terminologie aus der Netzaktivistenszene – Filter Bubble, Filter Clash, FOMO u.a.m. – imponiert nicht jedem. »Unterschiedlichste Varianten der Weltwahrnehmung prallen in radikaler Unmittelbarkeit aufeinander« – geht’s noch?

Er findet einen »Schock der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren« und redet uns ein, das sei ein völlig neues Phänomen, und auch der »digitale Schmetterlingseffekt« verweist lediglich wieder auf die erwähnte Beschleunigung und die Überwindung räumlicher Distanzen. Dass der Firnis der Zivilisation dünn sei, ist ein allseits geläufiger Topos, Pörksen trägt dazu weitere Beispiele bei und illustriert das Wirken einer Emotions- und Erregungsindustrie.

Ethikkommissionen

Er verweist auf Mechanismen der Skandalisierung und hält eine Art Ethikkommission für erforderlich, deren Wertegerüst, klar, auch Fundament schulischer Medienerziehung sein müsse, so dass eine redaktionelle Gesellschaft entstehen könne.

Man darf den Ausführungen zugutehalten, dass sie gut gemeint sind. Aber eine Ethikkommission? Bernhard Pörksen gewinnt seinen Blick aus einer Perspektive, für die Fragen von Ökonomie und Macht nicht zu existieren scheinen. Er verkennt auch den Adressaten. Der sind weder die Pädagogen, noch ist es in erster Linie die Politik; Veränderung wäre von den Konzernen zu verlangen. Denen müssen Grenzen gesetzt werden.

Kosten-Nutzen-Bilanzen

Seine Ergebnisse sind nicht besonders originell, sie überraschen nicht. Er scheint allen Ernstes anzunehmen, dass die Strategie der IT-Konzerne sich an moralischen Kriterien orientieren könnte oder überhaupt moralische Bedenken in Betracht ziehen würde. Da ist er auf dem Holzweg, und eigentlich sollte man nicht erwarten, dass Bernhard Pörksen mit einem so zentralen Thema so unkritisch, so naiv umgeht und sich überdies weigert, wahrzunehmen, dass zahlreiche ›User‹, vor allem Kinder und Jugendliche, zu Opfern des Internets werden. Seine Verengung auf medienwissenschaftliche Betrachtung greift nicht.

Es ist keine drei Wochen her, dass infolge eines Elektrizitätsausfalls auf einem großen Flughafen der USA der Flugverkehr tagelang eingestellt wurde. Das ist kein Einzelfall, und es wäre für Deutschland wie für Europa an der Zeit, eine Kosten-Nutzen-Bilanz zu erarbeiten, eine Bestandsaufnahme.

Interesse der Gemeinschaft

Denn ohne Zweifel (und nicht nur weil die Konzerne keine angemessenen Steuern zahlen) verursacht die IT-Kultur erhebliche Schäden, deren Begleichung – Wie teuer kommen uns eigentlich die Hacker zu stehen? – letzten Endes aus öffentlichen Haushalten finanziert wird. Es gilt sich von dem Rausch freizumachen, der den so zuckerwattesüßen Verheißungen der IT-Kultur innewohnt.

Anstatt Ethik-Kommissionen zu etablieren, ist durch staatliche Regulierung zu gewährleisten, dass die IT-Kultur sich weniger am privaten Profit orientiert, sondern sich dem berechtigten Interesse der Gemeinschaft unterordnet. Wenn ein ICE trotz neuester Bahn-Technologie mal wieder in Wolfsburg nicht hält, kommt ja auch nicht der Steuerzahler für die entstehenden Regress-Ansprüche auf.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit
Wege aus der kollektiven Erregung
München: Hanser 2018
256 Seiten, 22 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

1 Comment

  1. […] B. Pörk­sen: Die gro­ße Gereizt­heit | TITEL kul­tur­ma­ga­zin “Er scheint allen Erns­tes anzu­neh­men, dass die Stra­te­gie der IT-Kon­zer­ne sich an mora­li­schen Kri­te­ri­en ori­en­tie­ren könn­te oder über­haupt mora­li­sche Beden­ken in Betracht zie­hen wür­de. Da ist er auf dem Holz­weg, und eigent­lich soll­te man nicht erwar­ten, dass Bern­hard Pörk­sen mit einem so zen­tra­len The­ma so unkri­tisch, so naiv umgeht und sich über­dies wei­gert, wahr­zu­neh­men, dass zahl­rei­che ›User‹, vor allem Kin­der und Jugend­li­che, zu Opfern des Inter­nets wer­den.” […]

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

130 Jahre Wissenschaft und kulturelle Bildung

Nächster Artikel

Ein Porträtist als Landschafter

Weitere Artikel der Kategorie »Digitales«

Kein schöner Land

Digitales | Games: Rage All die Hochtechnologie umsonst! Was eine Gruppe von privilegierten Menschen vor der sicheren Auslöschung durch einen Kometen-Einschlag mit fatal-globalen Auswirkungen schützen soll, wird zu deren Hightech-Grab. RUDOLF INDERST wirft einen Blick auf seine mumifizierten Kollegen, ehe er als Avatar die sichere, aber arg begrenzte Bunkerwelt verlässt und in die gefährliche Welt von ›Rage‹ eintaucht.

Von Yoda weggeputzt du wurdest

Digitales | Games: Star Wars: Battlefront II Mehr Inhalt, mehr Epochen, Einzelspieler-Kampagne, atemberaubende Optik und Erweiterungen für alle. Mit diesen Versprechungen ging ›Star Wars: Battlefront II‹, passend zur Erscheinung des neuesten Kinofilms der Saga, in den Kampf um die Vorherrschaft im Spiele-Universum. Warum die dunkle Seite darin stark ist und er sich ihr trotzdem hingegeben hat, berichtet FLORIAN RUSTEBERG.

Digitales| Gesellschaft | Die Sexismus-Debatte im Juni 2012 Der Juni 2012 brachte eine bemerkenswerte Diskussion hervor: Die Geschlechter-Problematik wurde in der Spiele-Industrie und der sie umgebenden Kultur zwar schon öfters angesprochen. Doch nie zuvor wurde die Diskussion derart breit und entschieden geführt. Wie nachhaltig sie ist, wird sich erst noch beweisen müsst; trotzdem scheint dieser Monat einen wichtigen Moment zu markieren: Den – oder zumindest einen –  wichtigen Moment der Bewusstwerdung des Sexismus-Problems in der Industrie – und zwar nicht nur als vereinzeltes Phänomen, sondern als strukturelles. Ein Überblick von CHRISTOF ZURSCHMITTEN, VOLKER BONACKER, PETER KLEMENT und DENNIS KOGEL.

Im Land der Giganten

Digitales | Games: Shadow of the Colossus Die Bezeichnung »Koloss« lässt die meisten Europäer wohl instinktiv an den Koloss von Rhodos denken, eine Bronzestatue, die dem Sieg der Rhodier gegen den Erorberer Demetrios I. Poliorketis Tribut zollte. Dieses antike Weltwunder wurde jedoch bereits im dritten Jahrhundert vor Christi Geburt infolge eines Erdbebens zerstört. Das japanische Entwicklerstudio Team ICO widmete sich in dem 2005 unter Sony Computer Entertainment erschienen ›Shadow of the Colossus‹ der Faszination kolossaler Bossgegner, welche die Hauptrolle im damals noch exklusiv für die Playstation 2 erschienenen Spiels einnahmen. Am 7. Februar 2018 erschien die von Blupoint Games überarbeitete HD-Version

Wo die wilden Gamer wohnen

Digitales | Gamescom 2012 in Köln Sie stinken und stehen unter Generalverdacht, zumindest wenn man Politik und privaten Sendern glauben darf. Doch eigentlich sind Gamer eine liebenswerte Spezies, die ein buntes Multiversum bewohnt. PETER KLEMENT hat sein Gamershirt angezogen und ist ohne Abendessen zur Gamescom gefahren.