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Weitere Aufklärung notwendig

Sachbuch | Nina Brochmann, Ellen Stokken-Dahl: Viva la Vagina! Alles über das weibliche Geschlecht

Als man mir übertragen hat eine Besprechung des Buchs ›Viva la Vagina! Alles über das weibliche Geschlecht‹ zu schreiben, habe ich zuerst überlegt, welche Themen wahrscheinlich angesprochen werden würden. Sie braucht Beachtung und sie braucht Zeit, waren meine ersten Gedanken. Sie mag es sanft angefasst zu werden und, je nach Situation, auch mal intensiver. Sie hat eigene Bedürfnisse und muss lernen, diese zum Ausdruck zu bringen. Bei der Lektüre wurde ich in all meinen Annahmen bestätigt. Allerdings beschränkt auf das Kapitel »Sex«, welches nur ein Siebtel des Buchs ausmacht. Dies ist es wohl, was man bei einem männlichen Rezensenten als blinden Fleck bezeichnet, meint BASTIAN BUCHTALECK

Der Blog underlivet klärt auf

Das Buch wendet sich explizit an Frauen, ganz wie es ursprünglich mit dem Blog ›Underlivet‹ (norwegisch für Unterleib) geplant war. Von Frauen für Frauen. Die beiden jungen norwegischen Medizinstudentinnen Nina Brochmann und Ellen Stokken-Dahl wollten Frauen über ihr Geschlechtsorgan aufklären, und zwar nicht nur – wie manch männlicher Rezensent fehlerhaft angenommen hat – über die sexuelle Funktion, sondern über einfach alles, jeden Aspekt.

Sie fanden nämlich zu Beginn ihres Studiums und im Gespräch mit ihren Freundinnen heraus, wie viel Unsicherheit bei dem Thema Vagina vorhanden ist und wie viel falsches Wissen kursiert. »Auch wir waren einigen Mythen um den weiblichen Genitalbereich aufgesessen«, schreiben sie in der Einleitung des Buchs. Der Blog ging schnell durch die Decke, wie man sagt. Es gab offensichtlich einen gigantischen Bedarf nach Aufklärung. Die Nachfrage war schließlich derart groß, dass aus dem Blog das Buch ›Gleden med skjeden‹ (etwa: Freude mit der Scheide) wurde und dieses ist Anfang des Jahres unter dem Titel ›Viva la Vagina! Alles über das weibliche Geschlecht‹ in Deutschland erschienen.

Der Bedarf nach Aufklärung ist in Deutschland mehr als 350 Seiten stark. Es ist also anzunehmen, dass es auch in Deutschland einen Bedarf nach Aufklärung gibt. Zum Beispiel ist einer der ersten Mythen, deren sich die Autorinnen annehmen, der des Hymens, besser bekannt als Jungfernhäutchen. Angeblich kann man am Hymen ablesen, ob eine Frau noch jungfräulich ist oder nicht. Denn, so der Mythos, wenn das Hymen beim ersten Geschlechtsverkehr reißt, könne man an einer kleinen Blutung ablesen, ob die Frau vor dem Akt noch Jungfrau war oder eben nicht. Tatsächlich besteht zwischen Jungfräulichkeit, Hymen und Blutung kein zwingender Zusammenhang. Brochmann und Stokken-Dahl machen sehr deutlich, dass dieser Irrglaube ein Instrument männlicher Herrschaft ist und medizinisch nicht belegbar.

Vom Blog zum Buch

Der Aufbau des Buchs folgt keinem erkennbaren roten Faden. So beginnt das Buch mit der anatomischen Beschreibung des Geschlechts, worauf das Hymen, der Anus, Tipps zum richtigen Rasieren und schließlich die inneren Geschlechtsorgane folgen. Vielleicht ist dies ein Erbe des Blogs. Es folgen ungeordnet weitere vielfältige Themen: vom Ausfluss (der gesund ist) über Menstruation und Transgender bis hin zu – natürlich – Sex. Mehr Stringenz wäre zwar wünschenswert, aber es geht auch durcheinander.

Sprachlich ist das Erbe des Blogs ebenso erkennbar. Ganz offensichtlich ist dies zum Beispiel, wenn der Blog direkt angesprochen wird. Aber auch der Schreibstil ist noch weitgehend umgangssprachlich, stellenweise fast flapsig. Die Bewegung, die ein Finger machen muss, um den eventuell existierenden G-Punkt zu reizen, wird mit der Komm-Her-Bewegung des Fingers einer Disney-Hexe verglichen. In einem klassischen Sachbuch erwartet man einen anderen Sprachstil.

Gleichzeitig führt dieser lockere Sprachstil dazu, dass die Autorinnen glaubwürdig wirken. Autor und Leser sind sich ganz nah, was scheinbar notwendig ist, um schambehaftete Barrieren zum Thema des weiblichen Genitals aus dem Weg zu räumen. Dennoch hätte man sich mehr Mühe geben sollen, um das Buch inhaltlich und stilistisch abzurunden.

Sex – tu, was dir gut tut

In einem Buch über das weibliche Geschlecht ist das Kapitel über Sex sicher das, woran die meisten Leser – auch die weiblichen und nicht nur die wenigen männlichen – das größte Interesse haben. Aber darum ist es nicht gleich das wichtigste. Die Kapitel über Geschlechtskrankheiten oder Empfängnisverhütung sind genauso wichtig – allerdings sind sie eher wie Nachschlagewerke und darum weniger spannend aufbereitet.

Sex ist seit je mit Unsicherheit verbunden. Dies hat sich laut Brochmann und Stokken-Dahl, in einer durchsexualisierten Zeit wie der unseren, angefeuert durch den Leistungssex der Pornografie bzw. die vielfältigen erotischen Anspielungen in der Werbung so sehr gesteigert, dass wir unser eigenes Sexualverhalten als unzureichend wahrnehmen. Die Autorinnen plädieren darum für ein »neues Wirklichkeitsverständnis«, welches ein »gewöhnliches Sexleben« in den Mittelpunkt stellt. Nicht das Außerordentliche, die Ekstase solle angestrebt werden, sondern die wiederholte, entspannte Befriedigung. Dieser Gedanke ist für viele sicher befreiend.

»Der Orgasmus ist Übungssache (…). Um einen Orgasmus zu bekommen, muss man seinen eigenen Körper gut kennen und sich sicher fühlen«, schreiben die beiden Autorinnen und rennen damit offene Türen ein. Außerdem wiederholen sie wie ein Mantra, dass man für guten Sex auch miteinander reden muss. Insofern ist das Kapitel über Sex ziemlich bekannt. Entspannung, Übung, Körperbewusstsein sind die Vokabeln des Zeitgeists. Mann bekommt diese Begriffe genauso auch in ›Brigitte‹, ›Psychologie heute‹, ›Nido‹ und vielen weiteren Blättern angereicht. Verzichten darf ein Aufklärungsbuch darauf trotzdem nicht.

Lust – für guten Sex nicht zwingend notwendig

Überraschender ist da schon das Kapitel über die weibliche Lust. Die Autorinnen erinnern zunächst an ein Modell der Sexualität, das in den 1960er Jahren entwickelt wurde und seitdem als maßgeblich gilt. Demnach werden beim Sex vier Stadien chronologisch durchlaufen: Lust – Erregung – Orgasmus – Rückbildung. Dieses Modell lehnen Brochmann und Stokken-Dahl als fehlerhaft ab und ersetzen es durch ein neues. Und zwar derart, dass nur Frauen sich wagen dürfen, dieses neue Modell zu formulieren: Viele Frauen haben keine Lust vor dem Sex, aber währenddessen dennoch Spaß daran.

Viva la Vagina

Die Sexforscherin Emily Nagoski hat dafür den Begriff der responsiven Lust geprägt. Responsiv heißt, dass Lust als Reaktion auf Erregung geweckt wird. Die körperliche Erregung stünde an erster Stelle. Diese Beobachtung soll Frauen den Druck nehmen, ständig Lust zu verspüren. Ein Mann, der diese Position verträte, wäre sicher Anfeindungen ausgesetzt. Sie erinnert doch sehr an, »komm, du willst es doch auch«. Insofern ist das Modell der responsiven Lust zweischneidig und man muss vorsichtig damit umgehen.

Auch Brochmann und Stokken-Dahl ist nicht ganz wohl mit diesem neuen Modell, sodass sie quasi als Haftungsausschluss hinzufügen, dass es sich bei dieser Neuerung um eine statistische Wahrscheinlichkeit handelt und nicht um eine absolute Wahrheit. Nicht alle Frauen passen in das Modell der responsiven Lust und für einige Frauen ist das ältere Modell der spontanen Lust deutlich zutreffender.

Fazit

Trotz oder gerade wegen der sprachlichen Ungenauigkeit ist ein Einsatz von ›Viva la Vagina! Alles über das weibliche Geschlecht‹ im Sexualkundeunterricht gut denkbar. Es ist angenehm distanzlos. Man könnte mit gerade passenden, ausgewählten Abschnitten des Buchs die Neugierde der Jugendlichen wecken, um ihnen dann noch mal mittels Schaubildern die Funktionen von Gebärmutter, Eierstöcken oder der Vagina zu lehren.

Insgesamt ist es ein schwungvoll geschriebenes, gelungenes Aufklärungsbuch. Gleichzeitig ist es ein Buch von Frauen für Frauen, wobei es nicht schadet, wenn auch Männer es lesen. Wenn man die Maßstäbe an dieses Buch anlegt, die an ein Aufklärungsbuch angelegt werden, dann ist es fast schon als unterhaltsam zu bezeichnen.

| BASTIAN BUCHALECK

Titelangaben
Nina Brochmann, Ellen Stokken-Dahl: Viva la Vagina! Alles über das weibliche Geschlecht
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018
400 Seiten, 16,99 Euro
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