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»Kafka war nie ein Käfer«

Interview mit Urs Widmer

Der 1938 in Basel geborene und 2014 gestorbene Urs Widmer gehörte sicherlich mit gutem Recht zu den bekanntesten Stimmen in der deutschen Literatur. Eigentlich fehlte dem bis zuletzt in Zürich lebenden Erzähler und Dramatiker nur noch der Büchner-Preis. Zuletzt hatte er vor allem durch die Veröffentlichung der Zwillingsromane ›Der Geliebte der Mutter‹ und ›Das Buch des Vaters‹ für Aufsehen gesorgt. Widmer, der Germanistik, Romanistik und Geschichte studiert hatte und lange Jahre in Frankfurt lebte, erläutert in unserem wiederveröffentlichten Interview mit THOMAS COMBRINK unter anderem, wie er zu seinem eigenen, ganz unverwechselbaren Ton gekommen war und wie viel Lebenserfahrung ein Schriftsteller für das Schreiben benötigt.

Könnten Sie Autoren nennen, die für Sie am Anfang Ihrer Schriftstellerlaufbahn von Bedeutung waren?
Unter den jungen Autoren aus Deutschland: Helmut Heißenbüttel. Er war im Deutschland der sechziger Jahre mehr oder minder der Einzige, der erkennbar einen eigenen – nennen Sie es: avantgardistischen – Weg suchte. Damals war ich, mehr fast als an den Inhalten, an der Form interessiert. Das hing mit meiner Jugend zusammen. Wenn man schreiben will und jung ist, fehlen einem die Inhalte. Man hat einfach noch keine Erfahrungssubstanz. Umso wichtiger wird die Form. So haben mich Heißenbüttels ›Textbücher‹ sehr interessiert, vor allem auch, weil sie politisch sind. Später habe ich Heißenbüttel dann für mich ein bißchen verlassen, genau zu dem Zeitpunkt, als ich die Wiener Gruppe – Wiener, Rühm, Artmann, Bayer, Achleitner – entdeckte. Und dann kamen gleich auch die Autoren vom Grazer Forum Stadtpark hinzu. Hoffer, Bauer, Jonke.

In den sechziger Jahren haben Sie sich in Ihrer Doktorarbeit mit der Sprache der Literatur nach 1945 beschäftigt. Neben sprachskeptischen Autoren finden sich auch solche, die das Nazi-Vokabular weiter verwendeten.
Auch die Sprachskeptiker haben die alten Formeln weiter verwendet. Schaut man jetzt zurück, ist das leicht erklärbar. Aus dem Stand kann man keine über dutzende von Jahren korrumpierte Sprache hinter sich lassen. Die jungen, demokratisch denkenden Schriftsteller haben die altvertrauten Wörter einfach umgedeutet, indem sie nun zum Beispiel »fanatisch« für die Demokratie kämpften und nicht mehr, wie einst Goebbels, für den faschistischen Endsieg. Eine unberührte, unschuldige Sprache zu schreiben, ist niemandem gelungen. Wie denn auch? Helmut Heißenbüttel hat vor allem durch seine bewußten Sprachhaltungen in dieser Richtung einen radikalen Versuch unternommen. Er ist ja auch im Faschismus groß geworden.

Welche Vorstellung von Sprache hatten Sie damals?
Dontworry (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Urs-widmer-2012-ffm-066.jpg), „Urs-widmer-2012-ffm-066“, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcodeIch habe die Sprache nie nur als eine Art Schmiermittel für den Inhalt gesehen, da sie selbst immer ihre eigene Geschichte mittransportiert, ihre eigene Aura, ihre eigene Vieldeutigkeit hat. Auch ein Schweizer meines Jahrgangs konnte die Sprachverluderungen und Sprachzerstörungen von damals nicht ungeschehen machen. Ich habe mich im Übrigen für eigentlich alle Avantgarden interessiert. Nicht weil ich so wahnsinnig avanciert sein wollte, sondern weil die Avantgarden sich immer zu Gruppen von untereinander verschworenen Freunden und Freundinnen klumpten. Nach sowas sehnte ich mich. Ich war im Basel von damals ziemlich einsam. Die deutsche Literatur in den fünfziger und sechziger Jahren war ja nicht bestürzend avantgardistisch, und auch nicht bestürzend reich. Natürlich erregten mich Arno Schmidt, der junge Grass, Wolfgang Hildesheimer. Aber mir gefiel auch, dass die von der Wiener Gruppe mehr Polizeivorladungen als Literaturpreise hatten.

In Ihren frühen Texten ist noch etwas von der »écriture automatique« des Surrealismus erhalten geblieben.
Nun ja, ich weiß nicht. Mit der »écriture automatique« habe ich herumgepröbelt und musste zur Kenntnis nehmen, dass dieses Verfahren nicht funktioniert. Es ist eine Fiktion. Meine frühen Sachen haben eher etwas mit den Schreibhaltungen eines H.C. Artmann zu tun. Und vergessen Sie nicht den Einfluss der Pop-Art. Die Pop-Art ist in der bildenden Kunst in Erinnerung geblieben. In der Literatur war sie eine den Amerikanern abgeschaute Technik – die passte gut zu unserm 1968 –‚ alle hierarchischen Werte einmal probeweise aufzuheben. Donald Duck galt so viel wie Goethe, und die Campbell-Dosen waren ein so tolles Sujet wie der David des Michelangelo.

Mit der Form experimentieren Sie mittlerweile nicht mehr so stark …
Wenn Experimente nur kaschieren, dass man in Wirklichkeit gar keinen Inhalt hat, dann zahlen sie sich auf die Dauer nicht aus. Mit der zunehmenden Lebenserfahrung nimmt der Inhalt an Gewicht zu; bei manchen eben dann doch nicht. Avantgarden bleiben dann lebendig, wenn ihre neuartigen Methoden erfunden wurden, um einem anders nicht fassbaren, komplexen Inhalt gewachsen zu sein. Manches muss man einfach mal durchprobieren. Einer musste einen ›Ulysses‹ schreiben. Ich bin gottfroh, dass James Joyce das tun musste. Ich kann von ihm lernen, ohne mir ein ›Finnegans Wake‹ antun zu müssen.

Schreiben Sie täglich?
Irgendwas ist immer zu tun. Vortrag, Glosse, Interview redigieren. Außerdem schreibe ich viel im Kopf, oder vielmehr, »es« schreibt in mir. Das nächste Buch findet lange im Kopf statt. Ich höre mir aufmerksam zu und strukturiere, denkend, das Ganze bereits, mache mir aber kaum Notizen. Schließlich wird der Erfindungsdruck so mächtig, dass ich mich ans Schreiben mache. Dann geht es, falls es geht, ziemlich schnell.

Sind Sie ein schneller Schreiber?
Ich schreibe entweder gar nicht oder schnell. Ich gehöre nicht zu denen – nichts gegen die Methoden anderer –‚ die am Vormittag ein Wort schreiben und es am Nachmittag wieder durchstreichen. Beim schnellen Schreiben überrumpelt man seine Abwehren. Auch vermeintlich Schlechtes oder Ungehöriges ist a priori zugelassen und führt oft auf die eigentliche Spur.

Überarbeiten Sie Ihre Texte?
Aber ja. Schnell schreiben heißt nicht, sofort mit allem zufrieden zu sein. Ich schreibe jede Seite gewiss zehn Mal. Ich schreibe sie nochmals ab – auf einer Schreibmaschine –‚ wenn rechts unten ein Tippfehler ist. Und dann, siehe da, verändert sich der vermeintlich fertige Text noch einmal.

War es schwierig für Sie, einen eigenständigen literarischen Ton zu entwickeln?
Ich habe zwei drei Romane und ebenso viele Theatertexte grad gar niemandem gezeigt, weil ich wusste, dass sie nicht gut waren. Nicht authentisch, sondern eine Angeberei. Ich tat so, als ob das Literatur sei, als ob ich vom Leben etwas wüsste; gab zum Beispiel zu erkennen, dass ich mich mit den Frauen doch ganz gut auskannte. All diese blöden Sachen. Als ich schließlich meinen eigenen Ton zu finden begann, achtete ich wie der Teufel darauf, dass alles, was ich tat, durch ein Gefühl gedeckt war. Allein schon einen Text in der Vergangenheitsform zu schreiben, wurde mir da schier unmöglich. Nebensätze mit Weil am Anfang. Darum schrieb ich am Anfang – in ›Alois‹, in ›Die Amsel im Regen im Garten‹ – in diesem Simpelstil, dessen Gewinn war, nicht verlogen zu sein. Natürlich habe ich mit der Zeit an Sicherheit dazu gewonnen, verfüge heute über mehr Mittel. Aber mein kontrollierendes Gefühl überwacht und beschützt mich immer noch.

Zwischen den Büchern ›Der Geliebte der Mutter‹ und ›Das Buch des Vaters‹ besteht offensichtlich eine enge verwandtschaftliche Beziehung.
Diese beiden Bücher erzählen über weite Strecken die gleiche Geschichte, einmal aus der Optik des Vaters, einmal aus der der Mutter gesehen. Logisch, dass sie zusammengehören. In beiden versuche ich das eigentlich Unmögliche, nämlich mit den Mitteln der Fiktion möglichst nahe am wirklich gelebten Leben meiner Helden zu sein. Ich erfinde das Wahrscheinliche. Im ›Buch des Vaters‹ drehe ich die Schraube noch ein bisschen weiter: Am Schluss realisiert man, dass der eben gelesene Text die Rekonstruktion eines Buchs des Vaters ist, das sein Leben enthielt und das mit seinem Tod verschwunden ist.

Der Vater bekommt sein Buch zum zwölften Geburtstag, und ihm wird gesagt, dass er jeden Tag einen Eintrag machen soll. Für sein Leben hat er aber nur dieses eine Buch zur Verfügung.
Wie so oft ist ein Scherz ernst. Es kann aber sein, dass das Leben widerspricht, dann hat man das Buch voll und lebt noch dreißig Jahre. Der Vater stirbt aber zu früh; er hat noch leere Seiten. – Natürlich stellt dies die Verbindung zwischen Schreiben und Leben her. Wenn das Schreiben funktioniert, kann man in einen Zustand geraten, in dem man denkt: So lange dieses Buch nicht fertig ist, kann ich nicht sterben. Das ist natürlich Unfug, leider. – Was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht schriebe, weiß ich nicht. Sicher wäre ich unglücklicher, und vielleicht hätte ich Magengeschwüre.

Die Szene, in der der Vater im Bad niederschlägt, taucht in vielen Büchern auf.
Ja. Die Gründe dafür liegen auf der Hand bzw. im Leben selber. Literatur ist eine Möglichkeit, Geständnisse zu machen, die sonst schwerer zu erzählen wären. Manchmal verwechsle ich später meine Erfindung mit der Realität. Ich weiß nicht, habe ich das nun so erfunden, oder war es so.

Und die ganzen Orte, die in Ihren Bücher bereist werden: Haben Sie sich die angeschaut?
Ich habe einige Reisen gemacht. Kap Sunion, Rom, Emmental. Im Kongo war ich aber nie. Das Kongo-Buch habe ich mithilfe einer Generalstabskarte der Republik Zaire im Maßstab 1:100 000 geschrieben. Die bedeckte meinen ganzen Fußboden – der Kongo ist auch in diesem Maßstab sehr groß – und ich schaute immer wieder nach, wo die nächste Flussbiegung war und wie die Stanley-Fälle heruntertosten. Ich habe einen alten Tick für Schwarzafrika und die Geschichte seiner Erforschung. Das hat mich schon als Bub interessiert. Da spielte schon, neben der Suche nach den Quellen des Nils, die Erforschung des Kongo durch Stanley eine große Rolle. Bei der Übersetzung von Joseph Conrads ›Herz der Finsternis‹ habe ich mich dann auf eine ganz andere Weise mit dem Kongo beschäftigt. Ich wollte herausfinden, wie viel Conrad eigentlich phantasiert hat und was der Wirklichkeitsanteil ist. Denn vieles in diesem aus den Tiefen der Innenwelt heraus geschriebenen Buch entspricht ganz einfach der Wirklichkeit von damals. Auch wenn es das Monster Kurtz so nicht gegeben hat, so haben diese Massenmörder-Typen doch en masse existiert. Der Roman ›Im Kongo‹ sollte so eine Rose sein, die ich auf das Grab von Joseph Conrad legen wollte, eine Verbeugung, eine Reverenz.

Haben Sie Ortskundige kontaktiert?
Nachdem ich alles erfunden hatte, habe ich mich kundig gemacht und mich mit zwei Menschen zusammengesetzt, die im Kongo gelebt haben. Da lernte ich ein paar Sachen, die ich mit Gewinn verwenden konnte. Jene Details, das Genaue, das in der Literatur so wichtig ist. Zum Beispiel konnte ich meine naive Vorstellung korrigieren, dass im Kongo immer strahlend blaues Wetter sei. Der Kongo ist aber ein nasser Tropenwald, eine Art Hochnebel liegt oft darüber. Dann hatte ich auch das Gefühl, der Stanley Pool sei so groß wie ein Meer. Man kann aber prima rübersehen. Und manches mehr.

Lebenserfahrung ist also nicht zwingend notwendig für die literarische Darstellung.
Im Maßstab 1:1: nein. Kafka war nie ein Käfer, und Dante war nicht in der Hölle. Aber Lebenserfahrung brauchen Sie schon. Was den Kongo betrifft und meine Erfahrung mit ihm: in vielen Lesungen tauchten immer wieder Leute auf, die im Kongo gelebt hatten. Sie waren sicher, ich sei auch dort gewesen und fühlten sich an ihre damalige Zeit erinnert.

Manche Ihrer Figuren erwerben ihre Erfahrungen nicht direkt; häufig werden sie aus Büchern entnommen.
Bücher sind auch eine Quelle der Erfahrung. Ich bin trotzdem keiner, der alle seine Erfahrungen aus dem von anderen Aufgeschriebenen zieht. Das Leben, wie es so spielt, hat eine zu große Wucht. Es gibt natürlich Bücher, die einen großen Eindruck auf mich gemacht haben und machen. ›Heart of Darkness‹ eben, Stendhal, Büchner. Und manche andere, vom ›Grünen Heinrich‹ bis hin zu ›Hundert Jahre Einsamkeit‹. Warum sind es gerade diese Bücher? Warum verliebt man sich in diese Frau und nicht in jene, die doch genau so gescheit und hübsch ist? Bei manchen Büchern sehe ich die Größe und Wichtigkeit durchaus, und sie sprechen doch nicht zu mir. Mein Fehler, natürlich. Musil habe ich nie zu Ende gelesen.

Und Robert Walser?
Natürlich. Ich war einer der Fans der ersten Stunde, dies auch, weil er in meinem Elternhaus nie ganz vergessen war. Trotzdem: als er starb, nicht weit weg, war ich achtzehn Jahre alt und kann mich dennoch nicht daran erinnern, dass irgend jemand gesagt hätte, du, der Walser ist gestorben, schade. Walser war bei seinem Tod so ziemlich völlig aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden.

Sie sind Schweizer und schreiben in deutscher Sprache. Spielt die Nationalität für Sie eine Rolle?
Wir sind deutsche Dichter, alle hier in der deutschsprachigen Schweiz. Wir nehmen an der deutschen Kultur teil. Das schließt nicht aus, dass unsere eigene, andere Geschichte eine prägende Rolle spielt. Ich habe den Krieg in Basel erlebt, nicht in Köln oder Hamburg. Auch heute noch hat ein Buch aus der Schweiz ein anderes Hintergrundecho als eines aus Deutschland. Oder aus Österreich. Der manifeste Inhalt ist dabei nicht entscheidend. H.C. Artmann, der große Lyriker aus Wien, war zum Beispiel im Krieg in Russland. Strafkompanie, abenteuerliche Desertion, er hat den Krieg nur mit sehr viel Glück und einer Verwundung überlebt. Aber in seinem Werk kommt er mit keinem Wort vor. Er lässt die Kriegserlebnisse nicht zur Sprache kommen, nie. Aber es kann ja nicht sein, dass sie ihn nicht geprägt hätten. Seine Haltung war: von mir hört ihr kein autobiographisches Wort. Trotzdem hat er seine historischen Erfahrungen, und die prägen sein Werk.

Die Schweiz war als neutraler Staat nicht direkt involviert ins Kriegsgeschehen. Auch diese Tatsache wird im ›Buch des Vaters‹ thematisiert.
Wir hatten viel Glück, und wir haben uns auf eine durchaus unreine Weise durchgewurstelt. Aber nachher ist man immer gescheiter. Die Zeitgenossen wussten nicht, wie die Geschichte ausgehen würde. Bis 43 waren wir – meine Eltern zum Beispiel – eigentlich überzeugt, dass wir auch drankommen würden. Stalingrad war das erste Signal, dass der Kelch an uns vorübergehen könnte. Wir hätten Stalin und jeden Soldaten der Roten Armee einzeln geküsst, wenn sie damals durch unsre Straßen gegangen wären. Stalin war wegen seines Widerstands gegen Hitler so beliebt, nicht wegen des kommunistischen Systems. Das war ein utopisches Versprechen, das die einen ernst nahmen und die andern – die Mehrheit – verwarfen.

Die geschichtlichen Veränderungen lassen sich gut an dem Dorf des Vaters überprüfen. Irgendwann brauen die Dörfler dort nicht mehr ihr eigenes Bier, und die Särge stehen schließlich auch nicht mehr vor den Häusern.
Die Geschichte mit den Särgen ist erfunden, der ganze Initiationsmythos. Aber selbst da habe ich etwas Mögliches imaginiert. Solche Dörfer hat es in der Schweiz gegeben. In meiner Kindheit habe ich sie erlebt. Da gab es in Seitentälern des Wallis, im Lötschental etwa, Dörfer, die im November zuschneiten und im April wieder auftauten. Wer drin war, war drin. Da gab es keinen Arzt, kein Telefon, keine Straßen, keine Kommunikationsmittel. Der Kochlöffel sah genau so aus wie der, den die Ahnen im 12. Jahrhundert verwendet hatten. Nach dem Krieg änderte sich das rasch. Heute müssen Sie im Lötschental Geld in den Parkautomaten werfen, wenn Sie ein bisschen wandern wollen.

Manche der Dorfbewohner messen mit der Wasserwaage aus, ob ihr Sarg auch im richtigen Winkel vor dem Haus steht. Ist so die Mentalität der Schweizer?
Natürlich. So sind wir. Im ›Buch des Vaters‹ ist eine junge Frau deshalb die beste Partie des Dorfs, weil die Särge vor ihrem Haus mit der Wasserwaage ausgerichtet sind. Da kriegt der Zukünftige was Ordentliches. Ich würde auch keine mit lausig über einander geworfenen Särgen vorm Haus nehmen.

Mit dem Humor dämpfen Sie oft das Pathos?
Es geht immer um das richtige Maß. Manchmal muss man das Pathos, den Schmerz auch stehen lassen. Aber ich neige dazu, in allem Tragischen das Komische zu sehen, und im Komischen das Tragische.

Haben Sie auch mal Gedichte geschrieben?
Gebrauchsgedichte. Wenn in einem Stück jemand was singen muss, schreibe ich das ohne Mühe. Aber die Lyrik ist mir nicht gegeben. Ich habe kein einziges gutes Gedicht geschrieben.

Wie sind Sie denn zum Theater gekommen?
Ich habe immer Theater gemacht, vom Anfang an. Sogar ›Alois‹, das dann mein erstes Prosabuch wurde, habe ich zuerst als Theaterstück geschrieben. Schade, dass ich das verloren habe, es war ganz schön schräg. – Theater ist etwas Kollektives, und ich habe immer das Bedürfnis gehabt, mit andern zusammenzuarbeiten. Theater ist auch aggressiver als die Prosa, und ich kann politischer sein. Direkt politisch, meine ich. Zwei, eigentlich drei Stücke benennen ganz direkt Politisches.

Nämlich?
›Frölicher – ein Fest‹ und ›Jeanmaire. Ein Stück Schweiz‹. (Und natürlich sind auch die ›Top Dogs‹ politisch.) Im ›Jeanmaire‹ ging es um einen bis heute nicht aufgeklärten Justizskandal. Jeanmaire war ein Berufsoffizier der Schweizer Armee – ein Brigadier, in Deutschland wäre er General gewesen, der in den sechziger Jahren zu 18 Jahren Zuchthaus wegen Spionage zugunsten der Sowjetunion verurteilt wurde. Es spricht viel dafür, dass er ein Sündenbock für die Verfehlungen anderer wurde. Ich bin damals nicht der Einzige gewesen, der sich für den Fall interessierte, aber ich habe ihn im Theater sehr offensiv behandelt und entsprechende Aufmerksamkeit gefunden. Die Premierenkritik auf der Titelseite unseres größten Boulevardblatts. – Durch die Ereignisse von 1989 wurde auch aus Schweizer Archiven viel Material hinausgeschwemmt. Ich hatte also Einblick in ganze Stapel geheimer Militärgerichtsakten, und ich habe ein Stück geschrieben, das die Antwort nicht kennt, aber viele scharfe Fragen stellt. Die Verantwortlichen, die ja noch am Leben waren, haben es vorgezogen zu schweigen. Jeanmaire selber war beileibe keine Lichtgestalt, er war ein dickfelliger kalter Krieger und ein großes Kalb. Aber er war kein Spion, der 18 Jahre verdiente. Drei Monate bedingt, allenfalls.

Ist die Resonanz des Publikums Ihnen wichtig?
Ganz ohne Echo würde ich wohl verkümmern. Auf die Nachwelt setze ich dennoch nicht. Ich wäre froh, wenn die Welt noch eine Weile unbeschadet weiter existierte.

Interessiert es Sie, was die Literaturwissenschaft über Sie schreibt?
Die Literaturwissenschaft ist als Vermittlerin und ordnendes Echo wichtig. Aber die Arbeiten, die ich über mein Werk habe lesen dürfen, wirkten auf mich eher bizarr. Kürzlich verglich eine Dame meine ›Liebesnacht‹ aufwendig mit Goethes Novellen und kam zum Schluss, dass beide nichts miteinander zu tun haben. Höherer Blödsinn, der lässt sich weder in der Kunst noch in der Wissenschaft ganz vermeiden.

| THOMAS COMBRINK
| FOTO: Dontworry, Urs-widmer-2012-ffm-066, CC BY-SA 3.0

Das Gespräch fand am 5. Oktober 2004 in Bielefeld statt.

Titelangaben
Urs Widmer: Das Buch des Vaters
Zürich: Diogenes 2004
209 Seiten, 10,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

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