Sachbuch | Monika Niehaus: Die Frau, die ihren Mann für einen Doppelgänger hielt
Wenn es in der Einleitung heißt, man könne mit modernen Apparaten dem Gehirn »bei der Arbeit zuschauen« – na ja, man fragt sich, wie das abläuft. Dass das Gehirn aktiv ist, gewiss, und welche Regionen beteiligt sind, wird ebenfalls vermessen. Doch »bei der Arbeit zuschauen«, das gestaltet sich definitiv anders. Sprachlich, das fällt auf, haben naturwissenschaftliche Autoren gern eine poetische Wendung zur Hand. Von WOLF SENFF
Sei’s drum. Wir versuchen, dem einen Unterhaltungswert abzugewinnen. Naheliegend folglich, dass wir die während der achtziger und neunziger Jahre überaus erfolgreichen Publikationen des im August 2015 verstorbenen angloamerikanischen Neurologen Oliver Sacks heranziehen.
Das linke Bein der Männer
Er beschrieb Fallbeispiele komplexer Krankheitsbilder in einem souverän zwanglos anekdotischen Stil, er kannte die Personen, die er beschrieb, als seine Patienten, sodass er sie über der modernen Wissenschaft nicht aus dem Blick verlor, hinter jeder Erkrankung das individuelle Schicksal ins Auge fasste und darüber hinaus nicht ohne Humor stets auch die eigene Normalität infrage zu stellen bereit war.
Mag sein, dass damit die Messlatte hoch angelegt ist. Aber ist es wirklich wichtig oder auch nur unterhaltsam zu wissen, dass achtzig Prozent der ›amputee wannabes‹ männlichen Geschlechts sind und überwiegend eine Amputation ihres linken Beins bevorzugen, während bei Frauen der Wunsch nach beidseitiger Amputation häufiger ist? Dass man anstatt ›amputee wannabe‹ auch BIID sagt, Body Integrity Identity Disorder, und der Wissenschaftler zieht eh seit 2011 das Wort ›Xenomilie‹ vor? Wie geschmackvoll ist es, zwecks Illustration dieser Disposition die ›Venus von Milo‹ abzubilden?
Krätzmilben
Doch es gibt lesenswerte Artikel, etwa über den Veitstanz/Huntington-Krankheit, über das Walking-Corpse-Syndrome mit Querverweisen zur Zombie-Kultur, lehrreich der Artikel über den Eifersuchtswahn/das Othello-Syndrom, über Simultan-Agnosie/das Balint-Syndrom und einiges mehr, die Publikation ist ja so angelegt, als eine Sammlung ausgefallener, schräger Erkrankungen mitsamt häufigen Querverweisen zu Film und Literatur.
Immer wieder entsteht aber der unangenehme Eindruck, dass Faktenhuberei betrieben wird, und man fühlt sich an diverse Wörterbücher nutzlosen Wissens erinnert. Aber dieser von Monika Niehaus vorgelegte Überblick ist ernst gemeint. Krätzmilben, die sich zwecks Eiablage Gänge in die Hornschicht unserer Haut graben – wollten wir das wirklich wissen? Und die zahllosen hochgelehrten Benennungen – soll uns das beeindrucken?
Selbstbeweihräucherung?
Niehaus unterscheidet sich vom erwähnten Oliver Sacks – auf den sie im Artikel über Prosopagnosie/Gesichtsblindheit Bezug nimmt – dadurch, dass sie zwar aus Fallbeispielen zitiert und nicht empathisch auf das menschliche Schicksal eingeht, sondern stets sachlich einer informativen, unpersönlichen Ebene verhaftet bleibt.
Diese Sammlung kommt zwiespältig an. Gut, die Neurologen möchten ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen, wer wollte das schon. Aber allzu vieles liest sich dennoch wie Imponiergehabe, und es ist lästig, wenn Autoren in naturwissenschaftliche Disziplinen zur Selbstbeweihräucherung neigen.
Titelangaben
Monika Niehaus: Die Frau, die ihren Mann für einen Doppelgänger hielt
Wenn das Gehirn verrückt spielt: 36 seltene und ungewöhnliche psychische Syndrome
Stuttgart: Hirzel Verlag 2018
256 Seiten, 21,90 Euro
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| Leseprobe
Oliver Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
(The Man Who Mistook His Wife For a Hat, New York 1985)
Reinbek: Rowohlt 1990
320 Seiten, 9,99 Euro
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