Sachbuch | Rüdiger Barth, Hauke Friederichs: Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik
Historisch sind es trockene Daten: Wahlen zum Reichstag im August 1932, Rücktritt des Kabinetts Papen am 17. November, Berufung Kurt von Schleichers zu dessen Nachfolger am 2. Dezember, ein erbitterter Konflikt innerhalb der NSDAP um die Regierungsbeteiligung endet mit dem Verzicht Gregor Strassers auf seine Parteiämter (8. Dezember), Rücktritt Schleichers am 28. Januar und Wahl Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Von WOLF SENFF
Das zählen wir als letztes halbes Jahr der Weimarer Republik, und allein die Daten verraten uns wenig. Wo liest man die Zusammenhänge? In einer Biographie zum Beispiel, davon gibt’s reichlich, oder bei Wikipedia, oder man ruft ein Stichwort bei Youtube auf – nur dass man achtgibt, nicht einseitig informiert zu werden. Weiß man vorher nie.
Und heute?
Die von Rüdiger Barth und Hauke Friederichs vorgelegte Darstellung umfasst jenes Halbjahr und beschreibt die Abläufe und Zusammenhänge auf erfreulich lesbare Weise. Sie kommt mit erstaunlicher Leichtigkeit daher, würde wissenschaftlichen Ansprüchen kaum genügen und präsentiert dennoch eine Fülle von Details, die akribische wissenschaftliche Vorarbeiten erfordern – eine anspruchsvolle journalistische Leistung, die uns am Ende der Weimarer Republik mit all den politischen Winkelzügen, den Seilschaften, den Spannungen und Krisen teilnehmen lässt.
Wir entdecken Parallelen zu Tendenzen unserer Gegenwart – der Begriff Querfront wurde bereits von Kurt Schleicher, dem letzten Reichskanzler, geprägt, der Anteil der äußersten Rechten und Linken an der Lähmung der politischen Arbeit war beträchtlich, dem Leser fällt die besonders rigide Strafverfolgung linker Gruppen auf u.a.m.
Ein facettenreiches Gesellschaftsbild
Die Autoren überlassen es dem Leser, diese Parallelen zu bewerten, doch sie drängen sich auf, etwa wenn das Training der SA-Braunhemden »mit Revolvern, Gummiknüppeln, Spaten und Dolchen« erwähnt wird, auf die erbitterte Rivalität der Arbeiterparteien verwiesen oder auf die Nähe rechter und konservativer Politik zu einflussreichen Gruppen der Wirtschaft, so den Reichslandbund, einer Lobby der Großgrundbesitzer und ostelbischen Junker.
Das Geschehen ist Tag für Tag aufgezeichnet, jeder Tag mit aktuellen Schlagzeilen versehen und immer wieder auch mit Eindrücken aus Sicht von Personen wie Bella Fromm, einer Vertrauten des Reichskanzlers Schleicher und Gesellschaftsreporterin der Vossischen Zeitung, von Abraham Plotkin, einem von Berlin faszinierten amerikanischen Gewerkschaftsfunktionär, mit Impressionen der 1938 emigrierten Lyrikerin Mascha Kaléko und diversen anderen.
Vernichtender Hass
Auf diese Weise entsteht ein breit ausgemaltes Bild jener Zeit, ähnlich einem Gesellschaftsroman, verdichtet durch die besondere Zuspitzung auf die sich anbahnende Machtergreifung und das daran geknüpfte politische Personal. Intrigen mit einer Fülle von, wie es heute hieße, ›fake news‹. Leidenschaften, taktische Winkelzüge. Hunger und Elend, Krösusse.
Der Leser ist äußerst nah am Geschehen, er nimmt mit Abraham Plotkin an einer der Sportpalastreden von Joseph Goebbels teil und spürt die destruktive Kraft, die als Hass auf eine Minderheit projiziert wird und ihre Macht über die Menschen gewinnt.
Weitgehend ohne Plan
Als die im Titel angekündigten Totengräber der Weimarer Republik werden der Reichspräsident Paul von Hindenburg genannt, die Reichskanzler Franz von Papen und Kurt von Schleicher sowie die Nationalsozialisten Joseph Goebbels, Propagandachef, und Adolf Hitler, »Führer«.
Was inhaltlich überrascht, ist das oberflächlich weitgehend ziel- und planlose Geschehen und mittendrin eine NSDAP in tiefer finanzieller und politischer Krise. Am 30. Januar 33 wurde Adolf Hitler von Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt.
Titelangaben
Rüdiger Barth, Hauke Friederichs: Die Totengräber
Der letzte Winter der Weimarer Republik
Frankfurt: S. Fischer 2018
416 Seiten, 24 Euro
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