Der Wunsch nach Normalität

Jugendbuch | Rindert Kromhout: Anders als wir

Ein kleines Mädchen hat einen besonderen Wunsch: Sie möchte in einer ganz normalen Familie leben. Wenn man Angelica Bell heißt, wird das schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Von ANDREA WANNER

Anders als wir - 978-3-95854-122-1 - 350Angelica wächst in Charleston, einem großen, ehemaligen Bauernhaus in Sussex auf, zu dem ein großer Garten und ein Teich gehören. Der Garten ist das Reich der Kleinen, in dem sie von morgens bis abends ungestört unterwegs ist und die Figuren aus den Büchern, aus denen man ihr vorliest, lebendig werden lässt. Für sie ist das ihr gewohntes und ganz normales Leben, das erstmals Risse bekommt, als sie gleichaltrige Mädchen trifft.

Das Vater-Mutter-Kind-Spiel wird zur Herausforderung, weil die nachgespielte Realität nichts mit dem zu tun hat, was Angelica kennt. Sie lebt zusammen mit ihren älteren Brüdern bei ihrer Mutter, der Malerin Vanessa Bell, und deren Lebensgeführten, dem homosexuellen Maler Duncan Grant und dessen jeweiligen Liebhabern, der Vater Clive wohnt und arbeitet in London, ist aber regelmäßiger Gast in Charleston. Der mit Puppen und Teddybären nachgespielte Teebesuch bei der Nachbarin begeistert Angelica – und stößt auf totales Unverständnis bei ihren Spielgefährtinnen, als sie Dialoge von Märzhase und dem Hutmacher aus der verrückten Teegesellschaft in Alice im Wunderland zitiert. Nein, das Leben der Bloomsbury Group sieht anders aus, als das der normalen Landbevölkerung. Und Angelica fühlt sich einsam und traurig.

Der niederländische Autor Rindert Kromhout hat den ersten Teil der Familiengeschichte um die Künstlergruppe, in deren Mittelpunkt eigentlich Vanessa Bells jüngere Schwester Virginia Woolf und ihr Mann Leonhard stehen, bereits in ›Brüder für immer‹ erzählt. Der Fokus lag dabei auf Julian und Quentin, den neun und sechs Jahre älteren Brüdern von Angelica. Quentin wird zum Erzähler der ersten Geschichte und er erzählt auch jetzt die Fortsetzung, die mit dem Verschwinden der Tante Virginia im März 1941 beginnt. Angelica ist zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt. Ihre Tante spielte in ihrem Leben immer eine besondere Rolle. Gemeinsam verwandeln sich die beiden in die kleine Hexe Pixerina und die Oberhexe Witcherina, die nicht nur gemeinsam durch den Garten toben und die Brüder verhexen. Virginia erkennt anders als ihre Schwester Vanessa das Bedürfnis des Mädchens, »normal« zu sein und zwischen den anderen nicht aufzufallen. Sie lädt beispielsweise die 11jährige zu einer Shoppingtour durch London ein, wo sie ihr unauffällige aber zeitgemäße Kleidung kauft und ihr den ersten richtigen Haarschnitt ihres Lebens bei einem Friseur spendiert.

Nach dem Verschwinden von Virginia Woolf – ihre Leiche wird erst drei Wochen nach ihrem Selbstmord gefunden – beginnt in dieser Geschichte Angelica zu erzählen. Und Quentin, der überlebende Bruder, hört erstmals zu.

Wie schon im ersten Band nimmt Kromhout eigentlich die ungleich spektakulärere Geschichte von Vanessa und Virginia in den Blick und Angelica wird zur Randfigur. Die niederländischen Originaltitel beider Bände verraten, dass das auch sein tatsächliches Anliegen ist. Was dem Roman zugrunde liegt, sind die 1984 erschienenen Memoiren von Angelica Garnett, geborener Bell Deceived with Kindness (deutscher Titel ›Freundliche Täuschungen‹), in denen sich die längst erwachsene Künstlerin mit ihrer Kindheit und dem schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter auseinandersetzt. So finden sich auch im zweiten Teil der Geschichte der Bell-Geschwister amüsante Anekdoten um berühmte Künstler, facettenreiche Schilderungen aus dem Alltag der Mitglieder des Bloomsbury-Kreises, alles zusammengehalten von den bangen Tagen, in denen die Familienmitglieder und Freunde nach Virginia Woolf suchen.

Angelica ist die, die »anders« ist, anders als all die in der Familie, die sich nicht um Konventionen scheren, sondern ihre Freiheit und das Anderssein genießen. Angelica träumt sich in eine Durchschnittsfamilie, in der Zuspätkommen bestraft wird, Umarmungen dazugehören und Eltern ihren Kindern die Richtung für das weitere Leben weisen. Nach ihrem Berufswunsch gefragt, antwortet die 10jährige: »Ich möchte vielleicht Köchin werden«, Köchin wie Grace, die den Haushalt führt und deren Leben Angelica erstrebenswert normal erscheint. Ein Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen wird.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Rindert Kromhout: Anders als wir
(April is de wreedste maand, 2013)
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
München: Mixtvision 2018
268 Seiten. 14,90 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Riesig

Nächster Artikel

Mit dem Pony durch den Tulpenwald

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Wer hilft dem Osterhasen?

Familienbuch | Hannah Kastenhuber (Hg.): Oster-Werkstatt

»Ostern wird bunt!«, verspricht das Familienbuch, in dem eine bunte Auswahl an Bastelideen, Rezepten und Spielen steckt. ANDREA WANNER kam sofort in Osterstimmung

Unsicherheit garantiert

Jugendbuch | Ulrike Renk: Liebe ist keine Primzahl Sicheren Boden unter den Füßen haben, sich sicher sein, in Sicherheit wissen und das ständig, wer wünscht sich das nicht? Leider sind das Kinderträume. Das merkt man zuerst und dann unerwartet schmerzlich in der Pubertät. Da wird klar, dass das Leben, wenn schon nichts anderes, zumindest Unsicherheit garantiert. Wie man mit dieser Erfahrung zurechtkommt, zeigt Ulrike Renk in ihrem ersten Roman für Jugendliche ›Liebe ist keine Primzahl‹. Von MAGALI HEISSLER

Ganz schön verwickelt

Jugendbuch | Robin Benway: Wir drei verzweigt Was eine Familie ist, weiß jede. Vater, Mutter, Kind. Heutzutage auch Vater, Vater, Kind oder zwei Mütter und Kind. Aber hängt es nur von Erwachsenen ab? Was ist, wenn Kinder verschwistert sind, jedoch in unterschiedlichen Familien aufgewachsen? Wer bildet dann mit wem was? Welche Gruppierung zählt? Und wer entscheidet das? Ganz schön verwickelt, diese Familiensache. Von MAGALI HEIẞLER

Wer sät, der wird staunen

Jugendbuch | Nicola Skinner: Agatha Merkwürdens Racheblumen Melissa ist das bravste Mädchen überhaupt. Und sie tut alles, um ihr angepasst sein, ihre Ordentlichkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit noch zu perfektionieren. Wenn dabei ein paar seltsame Blumensamen helfen können, umso besser. Von ANDREA WANNER

Allerliebste Petitessen

Gedichte | Michael Roher: Wer stahl dem Wal sein Abendmahl? Der Wal muss hungrig zu Bett? Geht ein Wal überhaupt ins Bett? Und was hätte es überhaupt gegeben? Dass der Wal sich kein bisschen darüber geärgert hat, sei verraten. Aber nicht, wer der Täter war. Das muss man selber rausfinden. Ganz am Ende eines wundervollen kleinen Buchs findet ANDREA WANNER die Lösung.