Die Mutter hat zwei Flügelchen

Kinderbuch | N. Huppertz, T. Krejtschi: Meine Mutter, die Fee

Wenn die Mutter depressiv ist, belastet das die ganze Familie. Manchmal muss sogar die Tochter die falsche Rolle übernehmen, nämlich die der Mutter. Und wie gehen Vater und Tochter mit der Krankheit um? In einem neuen, schön gemachten Bilderbuch erzählt der Vater, sie sei eigentlich eine Fee. Was GEORG PATZER sehr missfällt.

bilderbuch_meine_mutter_die_feeNein, es ist sicher nicht normal, dass die Mutter plötzlich die halbe Nacht im Sessel sitzt und in die Dunkelheit starrt. »Und morgens, wenn mein Vater das Frühstück gemacht hatte, wollte sie einfach nicht aufstehen. Auch dass sie noch im Nachthemd war, wenn sie mir nach der Schule die Tür aufmachte, kam mir merkwürdig vor.« Die anderen, Valerie und alle anderen, halten sie für verrückt. Verrückt – das glaubt Fridi nicht. Und dann zeigt die Mutter ihr ein Bild, das ihr besonders gut gefällt. »Von Bergen in einem Nebelmeer zum Beispiel oder einem See im Mondschein«. Oder sie liest ihrer Tochter das Gedicht von der Mitternacht vor: »Doch immer behalten die Quellen das Wort, / Es singen die Wasser im Schlafe noch fort / Vom Tage, / Vom heute gewesenen Tage«, ein Gedicht des Romantikers Eduard Mörike. Oder spielt ihr etwas auf der Querflöte vor. Und dann ist alles wieder gut. »Aber mit der Zeit wurde es immer komischer.«

Denn die Mutter lässt sich gehen, zieht sich nicht an, empfängt ihre Flötenschüler nicht. Kneift mitten in der Stunde die Augen zusammen und presst die Hände auf ihre Ohren. Zieht die Vorhänge zu und starrt vor sich hin, als wäre niemand da. Oder kommt gar nicht erst aus ihrem Zimmer. Manchmal wird Fridi wütend und schreit sie an und will auch das Gedicht von der rauschenden Erde nicht hören, das sie sonst mag.

Da verrät ihr Vater ihr ein Geheimnis: Die Mutter ist nicht verrückt, sie ist eine Fee. »Eine Fee in der Welt der Menschen.« Und deswegen kann sie auch die Erde rauschen hören. Er weiß es, weil sie sich eines Nachts zu erkennen gegeben hat. »Wenn sie eine Fee wäre, wäre sie schön«, sagt Fridi. »Das ist sie doch«, sagt der Vater. Aber da sitzt sie »mit ihren strubbeligen Haaren im Sessel«, blass und hässlich. Aber dann schaut sie, ganz kurz, und lächelt. Und da ist sie doch schön, »so schön wie eine Blume im Gewitter«.

Nikola Huppertz hat ein ergreifendes Bilderbuch von einer depressiven Mutter geschrieben, aus der Sicht ihrer kleinen Tochter. Depressiv heißt nicht, dass sie ab und zu traurig ist, melancholisch oder elegisch. Sondern klinisch schwerkrank. Sie zieht sich zurück, vernachlässigt sich, zieht sich nicht mehr an, kämmt sich nicht, isst nicht. Hat keine Energie, will keine Kontakte zu anderen, ist teilnahmslos. Irgendwann wird sie »weggebracht«, und der Vater erklärt Fridi, dass sie jetzt in die Welt der Feen zurückkehrt. Aber er sagt auch, dass sie wiederkommt, denn eine Fee »gehört für immer zu den Menschen, denen sie sich zu erkennen gibt.«

In einfachen Worten und genauso einfachen, flächigen Zeichnungen erzählen Huppertz und der Illustrator Tobias Krejtschi die Geschichte der depressiven Mutter. Da sieht man ihr graues Gesicht, die strähnigen Haare, an der Wand hängen die Bilder, die sie so mag: Caspar David Friedrich mit seinen Nebelbergen und den einsamen Menschen, der rote, streifige Himmel und die verzweifelten Menschen von Edvard Munch. Man sieht sie kraftlos in einem Sessel hängen, während die Tochter einen Flötenschüler abwimmelt, den Tisch deckt oder staubsaugt. Und man sieht, zart angedeutet, die beiden Flügel, die sie ja als Fee auch haben muss.

Es ist ein klares, einfaches, eindringliches Bilderbuch, das auch den Alltag zeigt, wo der Vater sich liebevoll und geduldig um Mutter und Tochter kümmert und die Tochter dann die falsche Rolle, nämlich die Mutterrolle, übernehmen muss.

Wie der Vater das macht, finde ich allerdings falsch. Kinder sind ja nicht dumm – eine Weile, wenn sie sehr klein sind, glauben sie an den Osterhasen und den Nikolaus, aber das gibt sich schnell, spätestens wenn sie im Kindergarten oder in der Schule davon erzählen und von ihren Mitschülern ausgelacht werden. Ein schulpflichtiges Mädchen weiß ganz genau, dass es keine Feen gibt. Dafür spürt es, was zwischen den Eltern vor sich geht. Es spürt und sieht, wenn die Mutter krank ist – eine schwere Depression ist ja nichts, wo man sagen kann: »Reiß dich mal zusammen.«

Warum erklärt der Vater nicht, dass die Mutter an etwas leidet? Dass man ein wenig auf sie aufpassen muss, und dass sie ihre Mutterrolle nicht so ausfüllen kann, wie es für die Tochter richtig wäre? Und warum erklärt der Vater ihr nicht, dass die Mutter in ein Krankenhaus kommt, wo man ihr besser helfen kann? Ich habe das Gefühl, hier wird etwas unnötig und für die Kinder schädlich romantisiert und unter den Tisch gekehrt, aus dem falschen Impuls heraus, das Kind zu schonen. Oder, weil der Vater es selbst nicht wahrhaben will. Das lernt dann auch das Kind: Dass man mit der Realität nicht leben muss, sondern sie sich umdeuten kann, wie man will.

| GEORG PATZER

Titelangaben
Nikola Huppertz / Tobias Krejtschi: Meine Mutter, die Fee
München: Tulipan Verlag 2018
36 Seiten. 15 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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1 Comment

  1. ich glaube, dass der vater dem kind sagen möchte dass die mutter in ihrer eigenen welt lebt. er nennt das eben feenwelt. und wenn das die sorgen und nöte des kindes erträglicher macht, hat das durchaus seine berechtigung. diese welt ist eben nicht greifbar, aber auf diese weise kommt das kind damit zurecht.

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