Fremd in der Heimat

Roman | Thomas Hürlimann: Heimkehr

»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus«, heißt es in Schuberts Winterreise. Ums Fremdsein, um die schmerzhafte Suche nach eigenen familiären Wurzeln und um die Suche nach einem Wohlfühl-Ort geht es auch in Thomas Hürlimanns neuem opulenten Roman Heimkehr. Von PETER MOHR

Hürlimann - Heimkehr Schreiben war für den inzwischen 67-jährigen Schweizer Autor stets ein schmerzvolles Abarbeiten an der eigenen Familiengeschichte. Vier Jahre hatte Hürlimann an seinem letzten Roman Vierzig Rosen (2006) geschrieben und war dafür eigens aus Einsiedeln nach Berlin umgezogen. »Ich spürte, dass ich diese Geschichte dort nicht schreiben konnte«, erklärte der Jean-Paul-Preisträger des Jahres 2003. Große Teile dieser Geschichte kannte man bereits in Fragmenten aus den Vorgängerwerken Der große Kater (1998) und Fräulein Stark (2001), und auch nun hat Hürlimann nach seiner langen, krankheitsbedingten Schreibpause wieder die eigene Familiengeschichte (zumindest folienhaft) als thematischen Hintergrund gewählt.

Im Mittelpunkt der Handlung, die auf der Haupterzählebene in den späten 1980er Jahren angesiedelt ist, steht Heinrich Übel junior. Er ist Ende dreißig und war von seinem gleichnamigen Vater einst mit den Worten »mein lieber Abfall, du bist weit vom Stamm gefallen!« verstoßen worden. Der Familienpatriarch (die Mutter hat in jungen Jahren ihrem Leben durch Suizid ein Ende gesetzt), ein erfolgreicher und angesehener Fabrikant hat offensichtlichen einen Versöhnungskurs eingeschlagen.

Jedenfalls befindet sich der Junior mit einem geliehenen Auto auf dem Weg zu ihm ins fiktive Fräcktal, als ein Unfall alles schlagartig verändert. Auf einer vereisten Brücke kommt das Auto ins Rutschen und kracht in das Geländer. Übel junior verliert das Bewusstsein. Autor Hürlimann hat einen ähnlichen Unfall 1998 auf einer Brücke über dem Sihlsee erlebt.

Als der Protagonist wieder erwacht, befindet er sich in Sizilien und wird dort ungewöhnlich höflich, geradezu respektvoll behandelt. Offensichtlich verwechselt man den verstoßenen Spross eines Schweizer Fabrikanten. Er kennt lediglich noch seinen Namen und sein Geburtsdatum (nicht zufällig identisch mit dem des Autors), der Rest an Erinnerungen ist ihm abhandengekommen.

Ein Mann ohne Vergangenheit will sich an einem ihm fremden Ort zurückkämpfen ins »alte« Leben. Mühsam rekonstruiert er sich eine Vita zusammen, folgt dann einer Frau nach Malta und Afrika; später landet er in der Kulturschickeria Zürichs und im West-Berlin der Vor-Wende-Zeit. Hürlimann war von seinem im letzten Jahr verstorbenen Verleger Egon Ammann einst nach Sizilien eingeladen worden.

»Da verband sich der Unfall mit dem rauschenden sizilianischen Frühling, der Tod mit der Auferstehung«, erklärt der Autor im Rückblick. Viele autobiografische Details werden aus der Perspektive des inzwischen im Rentenalter angekommenen Autors wieder neu aufgenommen und erhalten einen leicht humoristischen Touch – so der dauerstudierende Übel junior, der irgendwann die Universität in Zürich ohne Abschluss verlässt, aber stattdessen einen gigantischen Wust an Papieren mit privaten (literarischen) Aufzeichnungen) angehäuft hat.

»Nicht die Fremde war fremd, fremd war die Heimat, die man draußen für immer verlor. Das hatten schon Odysseus, Robinson und all die anderen, die eines Tages zurückgekehrt waren, bitter erfahren müssen«, heißt es im Roman, in dem Hürlimann in federleichtem Ton völlig unangestrengt die großen existenziellen Themen »abarbeitet«: Leben und Tod, gestern und heute, Väter und Söhne, Fremde und Heimat, Zäsuren und Neuanfänge.

Heimkehr ist eine fiktive, aber deshalb nicht minder schmerzvolle Lebensbilanz, eine poetische Bestandsaufnahme – nüchtern und desillusioniert, aber ohne Hass und Häme, dafür mit reichlich Selbstironie versehen. Es ist die Essenz eines nicht besonders umfangreichen, aber doch bedeutenden und in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur absolut singulären Oeuvres. 

| PETER MOHR

Titelangaben
Thomas Hürlimann: Heimkehr
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2018
528 Seiten, 25.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Würfel sind gefallen

Nächster Artikel

Die unterschätzte Krankheit

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Alles den Bach runter

Roman | Kerstin Preiwuß: Nach Onkalo Er ist ein Spezialist für die Großwetterlage und scheitert an den kleinen Dingen. Er hat seine Mutter verloren und findet so etwas wie eine neue Familie. Man nennt ihn Matuschek und kennt nicht seinen Vornamen. Nach Onkalo ist vielleicht sein letztes Ziel, nur ein vermeintlicher Sehnsuchtsort. Kerstin Preiwuß inszeniert ihren zweiten Roman in einem vergessenen Landstrich der Verlierer und Abgehängten. Von INGEBORG JAISER

Der 100-Millionen-Coup

Roman | Lee Child: Der Ermittler

Die Nachricht sorgte für einige Unruhe. Lee Child will sich nach mehr als 20 Jahren und zwei Dutzend Romanen von seiner Figur Jack Reacher trennen. Da der Ex-Militärpolizist freilich inzwischen an der Schwelle zur Unsterblichkeit steht, soll Childs – der im bürgerlichen Leben den Namen James Grant trägt – Bruder Andrew Grant als Andrew Child Reacher übernehmen und die Saga fortsetzen. Kann das funktionieren? Man wird sehen. Oder auch nicht, sollte der Plan wieder aufgegeben werden. Für seine deutschen Leser wäre das im Übrigen momentan nicht ganz so dramatisch. Denn noch warten drei Reacher-Romane auf ihre hiesige Erstveröffentlichung. Enough time to say Good-bye! Von DIETMAR JACOBSEN

Wenn ein Okapi im Traum erscheint

Roman | Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann »Ich wollte dich umbringen, Selma«, sagte Palm leise. »Wegen deiner Träume. Ich habe gedacht, dass dann keiner mehr sterben würde«, heißt es im dritten Roman ›Was man von hier aus sehen kann‹ der 44-jährigen Mariana Leky, der sich zwischen modernem Märchen und Schauergeschichte bewegt. Von PETER MOHR

Vincent van Gogh und seine Familie

Roman | Willem-Jan Verlinden: Vincents Schwestern

Viel weiß man über Vincent van Gogh, jedoch wenig über seine Schwestern. Mit Hilfe eines Briefwechsels der Geschwister van Gogh veranschaulicht Willem Jan-Verlinden in Vincents Schwestern ihre gemeinsame Geschichte. Von BETTINA GUTIÈRREZ

Die Griechen schreiben schon wieder Geschichte

Roman | Petros Markaris: Verschwörung

Kostas Charitos im Homeoffice? Wäre schön, aber das Verbrechen pausiert nicht während der Pandemie. Im Gegenteil. Gerade der Lockdown scheint sich auf dunkle Existenzen anziehend auszuwirken. Und so ist Athens Stellvertretender Kriminaldirektor auch schon bald wieder mit der Aufklärung heimtückischer Morde beschäftigt. Die diesmal – wie könnte es anders sein – einen bekannten Epidemiologen und den Fahrer eines Impfstofftransporters ins Jenseits befördern. Auch im 14. Fall für seinen bodenständigen Helden bleibt Petros Markaris dem Zeitgeschehen auf der Spur und verhehlt nicht seine Sympathie für diejenigen, die auch während des Lockdowns am wenigsten zu lachen haben und ihren Protest auf ganz eigene Art ausdrücken. Von DIETMAR JACOBSEN