Nicht gestellte Fragen

Jugendbuch | Alex Wheatle: Die Ritter von Crongton

Wer träumt mit fünfzehn nicht von ruhmreichen Taten, wahrer Ehre, großer Liebe? Sowie vom neuesten Smartphone, dem schnittigsten Auto und viel Geld. Vorne sein, Boss sein. Es geschafft haben. All das ist es wert, dafür zu kämpfen. Wer behauptet das? Das ist eine der Fragen, die hier nicht gestellt werden. Von MAGALI HEIẞLER

Ritter von CrongtonMcKay hat ein Problem. Tatsächlich hat er so viele, dass beim Aufzählen gerade die Daumen frei bleiben. Die Familie, die Freunde, die Pubertät, die Wohngegend, die Frage nach seiner Zukunft. Im Grund seines Herzens weiß er, was er werden will, Koch. Nicht irgendeiner, sondern Besitzer einer ganzen Restaurantkette. In der Schule hat er die Möglichkeit, an der Koch-AG teilzunehmen. In der AG sind aber nur Mädchen. Sich dazuzustellen, kann ein cooler South-Crongton-Bruder nicht bringen. Schlimm genug, dass er übergewichtig ist.

Für seine Freunde Jonah und Liccle Bit ist McKay in Ordnung. Selbstverständlich wendet sich Bit an ihn, als es darum geht, Venetias Handy zurückzuholen. Das hat ihr Ex weggenommen, weil er die Sache mit dem »Ex« anders sieht. Auf dem Handy sind unseligerweise eine gewisse Art Fotos von Venetia gespeichert. Da Bit den Platz einnehmen möchte, den der Handy-Dieb bislang hatte, ist es klar, dass er Venetia hilft. Genau so klar ist, dass McKay dabei ist. Freunde tun das füreinander und überhaupt träumt er zu gern von großen Taten, König Arthurs mindestens.
Allerdings lebte König Arthur nicht in einer elenden Siedlung, deren Straßen von hochaggressiven Jugendbanden beherrscht werden. Venetias Ex wohnt mitten im Feindesland. McKay hat ein Problem.

Mit sicherer Hand

Wheatle hat eine bewundernswert sichere Hand beim Erzählen wie bei der Figurenzeichnung. Alles sprudelt vor Leben. Nach wenigen Worten ist man an der Seite des knapp fünfzehnjährigen Ich-Erzählers und begleitet ihn durch den Tag und die folgende Nacht, den wesentlichen Zeitraum fast der ganzen Handlung. Der Fokus beginnt eng, vom Innern der Wohnung, in der der Junge mit Vater und Bruder wohnt, hinaus auf die Straße, auf der Gefahren unterschiedlichster Schweregrade lauern. Mit dem Auftritt der Freunde weitet sich nicht nur der Raum, sondern auch das Gestrick der Interaktion, das Wheatle eingefädelt hat und unentwegt weiterwirkt. Die zunächst drei, dann vier Jungen und zwei Mädchen der zentralen Gruppe haben untereinander spezifische Verbindungen ebenso wie Rollen innerhalb des losen Verbunds. Rollen und Verbindungen ändern sich im Verlauf der Handlung, verengen sich, erweitern sich, zerreißen oder werden geknüpft. Alles ist im Fluss.

Die Dynamik, die Wheatle erzeugt, verdeutlicht gleichermaßen die Unrast pubertierender Jugendlicher wie die tiefliegende Unruhe, die die gesamte Siedlung durchzieht. Der soziale Unfriede, die Kriminalität, der unentwegte Druck und die Angst, die alle unterminiert, halten alles in Bewegung. Das wiederum wirkt zurück auf die Rasanz der Handlung, die nach dem »Vom Regen in die Traufe«-Prinzip konstruiert ist, aber völlig plausibel bleibt, wenn man bedenkt, dass sich vornehmlich Fünfzehnjährige durchschlagen. Haarsträubende Unternehmungen bleiben da nicht aus. Entsprechend spannend ist das Ganze.

Dynamik bringt auch die Sprache. Die Jugendlichen sprechen Jargon, aber keinen nachgeahmten Gossenslang. Dafür braucht man nicht nur dankbar zu sein, das war Absicht.

Der Autor kann mehr, viel, viel mehr. Seine Figuren sprechen tatsächlich Hochsprache durchsetzt mit einem eigens erfundenen Slang. Dieser speist sich aus der aktuellen Pop- und Jugendkultur gemischt mit einer Menge irrwitzig-poetischer Bilder, die streng genommen viel zu häufig semantischer Logik entbehren, ihrer schieren Musikalität wegen aber unwiderstehlich berückend sind. Dementsprechend kann man sie kaum zitieren, sie brauchen den Gesamttext für ihren Groove. Die Übersetzungsarbeit, von Conny Lösch mit Verve erbracht, grenzte sicher an Wahnwitz und kann dem Original wohl höchstens nahekommen. Trotzdem reißt das deutsche Ergebnis mit. Man könnte den Kids stundenlang zuhören, entsetzt über die Ausdrücke, wütend wegen ihrer beschränkten Ansichten und sich zugleich köstlich amüsieren wegen der sprachlichen Tollkühnheiten. Wheatle zieht sämtliche Register und das mit scheinbarer Leichtigkeit.

Gralshüter verstaubter Ideale

Anfechtbar bei diesem Buch sind die Ideale, die der Geschichte zugrunde liegen. Die Vorstellungen von Ehre und Zusammengehörigkeit sind interessanterweise die, die am ehesten hinterfragt werden. McKay stört es enorm, dass er aus Loyalität seinem Bruder gegenüber den Vater anlügen muss, an dem er ebenso hängt. Ob und wie man andere unterstützt, unterstützen soll oder gar muss, wird diskutiert. Wheatle hat ein waches Auge für die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man sich auf Autoritäten nicht verlassen kann. Dass es hier die Frauenfiguren sind, die eher die öffentliche Ordnung im Auge haben, hat nichts damit zu tun, dass der Autor Frauen als Friedensengel glorifiziert – hier durchbricht er überkommene Muster – , sondern mit dem praktischen Verstand, mit dem er sie erfreulicherweise ausstattet. Sie haben keine Lust mehr, danebenzustehen, wenn es kracht und dann das Blut aufzuwischen. Ihren Standpunkt machen sie laut deutlich, sehr laut. Die Mädchen und Frauen agieren frei und aufrecht.

Das Zielpublikum sind jedoch junge Männer und ihre Denkweise steht im Vordergrund. Die Dialoge sind enorm testosterongeschwängert. Daran ändert auch nichts, dass viel geweint, geschnieft und umarmt wird. Sehr störend ist der durchgängig gebrauchte Ausdruck »Pussy« für Feigling. Er zeigt wieder einmal, dass auch Menschen, die Opfer von Rassismus sind, deswegen keineswegs die besseren sind. Die Ausdrucksweise ist im Übrigen nicht auf das Englische beschränkt. Hierzulande ist »Mädchen« auf Schulhöfen und Sportplätzen ein gängiges Schimpfwort.

Das eigentliche Problem ist das hehre Lied vom sozialen Aufstieg. Er gilt als Schlüssel hinaus in eine Welt, von der die Menschen der Siedlung ausgeschlossen sind. Die Siedlung ist eine Art Gefängnishölle, in der ein steter blutiger Kampf herrscht um die Vormacht. Irgendwann hat er angefangen, seither geht er seinen Gang, ein mechanischer Ablauf von Gewalt und Gegengewalt, den niemand beenden kann. So das Dogma. Der soziale Aufstieg, Bildung, etwas aus sich machen, reich werden, wird als einziger Ausweg angepriesen.

Dabei wird übersehen, dass alle in der Siedlung diesen Traum träumen. Festus, der mörderischste Gegner, will ebenso aufsteigen und anerkannt werden. Bei ihm ist das Ziel die Karriere in einer kriminellen Gruppe. Aber das ist kein Unterschied, Aufstieg ist das allgemeingültige Zauberwort. Festus’ Jammern über verletzte Ehre und darüber, was andere von ihm sagen, ist das Gejammer der Biederen, Spießigen. Der junge Mann ist vielleicht achtzehn.

Mit dem »etwas darstellen« hat auch McKays Vater Probleme. Da er bei den Guten angesiedelt ist, darf er seine Fehler einsehen und sich bessern. Auch der ältere Bruder kommt in die Spur, McKay überwindet sich und meldet sich beim Kochkurs an. Das ist schön, leider ist es nicht durchdacht. Die individuelle Befreiung macht keinen Unterschied zwischen Guten und Bösen. Es handelt sich um ein- und dasselbe Wertsystem. Die männlichen Figuren werden, um im Bild zu bleiben, in dieser Geschichte zu Gralshütern eines Ideals, das eigentlich ins Museum gehört.

Wheatles Jugendliche sind nicht nur Gefangene der biologischen Vorgänge in ihren Körpern und der sozialen Verwerfungen, sondern gesamtgesellschaftlich herrschender Denkmuster. Das gilt genauso für die Geschlechterfrage. Der lüsterne Blick der Guten auf Mädchen und Frauen ist Ausdruck von Zuneigung. Der lüsterne Blick der Feinde oder auch Weißer, ist widerlich oder rassistisch. Auch die allumfassende Rolle der Gewalt, etwa in der Popkultur, wird nicht thematisiert. Bezugssysteme etwa sind Harry Potter, Herr der Ringe, Star Wars. Rittersagen. Krieg und Gewalt als Ideal. Siegen wollen wir doch alle. Koste es, was es wolle. Den Verstand bekanntlich zuerst.

Eben diese Denkmuster werden nicht hinterfragt. So wird aus einem hervorragend geschriebenen und ehrlich gefühlten Buch tatsächlich ein Ausstellungsstück der herrschenden Ideologie, deren Gefährlichkeit sich hinter vermeintlicher Authentizität verbirgt. Diese Authentizität ist nichts als die resignative Akzeptanz der herrschenden Verhältnisse. Veränderbar sind sie nicht, die Hölle brennt weiter. Niemand fragt, warum sie angezündet wurde und wer den Brennstoff liefert. Die Lösung der Probleme wird einzig in der individuellen Leistung gesehen und derart propagiert. Das ist ein perfektes Ingredienz für hochspannende wie hochemotionale Geschichten, Leselust in Reinform. Nur zum Nachdenken über die herrschenden Verhältnisse bringt das nicht und eben deswegen reicht das nicht für ein zeitgenössisches Jugendbuch.

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Alex Wheatle: Die Ritter von Crongton
(2016 Crongton Knights, übers. von Conny Lösch)
255 Seiten, 18 Euro
München: Verlag Antje Kunstmann 2018
Jugendbuch ab 14 Jahren
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