Die Söhne von Carl Ott

Roman | Tom Franklin: Krumme Type, krumme Type

In Chabot/Mississippi ist eigentlich der Hund begraben. Sodass eine Klapperschlange, die jemand in einem Briefkasten deponiert hat, schon fast die größte Bewährungsprobe für den örtlichen Polizisten Silas Jones darstellt. Ansonsten stellt er Strafzettel aus und regelt in Stoßzeiten per Hand den Verkehr vor dem örtlichen Sägewerk. Doch plötzlich ist die 17-jährige Tochter des Sägewerksbesitzers verschwunden und ein Mann, mit dem Silas in seiner Jugend befreundet war, wird in seinem Haus angeschossen. DIETMAR JACOBSEN über Tom Franklins neuen Roman Krumme Type, krumme Type.

Tom Franklin: Krumme Type, krumme TypeUnd weil dieser Larry Ott bereits vor 25 Jahren unter dem Verdacht stand, eine junge Frau entführt und ermordet zu haben, muss Silas, während die Volksseele langsam hochkocht, noch einmal tief in die dunklen Abgründe ihrer gemeinsamenVergangenheit eintauchen.

Larry Ott hat sich schon daran gewöhnt, dass ihn alle in Chabot, einem kleinen Südstaatennest der USA, für einen Killer halten. Mit 17 Jahren war er der Letzte gewesen, mit dem die gleichaltrige Nachbarstochter Cindy Walker vor ihrem Verschwinden zusammen war. Die beiden hatten sich gemeinsam im Wagen von Larrys Vater zu einem Autokinobesuch in die nächstgrößere Stadt aufgemacht. Nach Hause kehrte das Mädchen freilich nicht zurück.

Doch weil die Beweise nicht ausreichten, um Larry hinter Gitter zu bringen, und Cindy weder lebendig noch tot wieder auftauchte, wurde der Junge freigesprochen. Fortan war er für alle anderen Einwohner von Chabot »Scary Larry«, wurde geschnitten und zog sich selbst weitgehend aus der Öffentlichkeit in sein abseitsstehendes, mit Büchern vollgestopftes Haus zurück.

Scary Larry

Nach dem blut- und bleihaltigen, sämtliche Attribute des klassischen Westerns in ihr Gegenteil verkehrenden Smonk (Pulp Master 2017) ist Krumme Type, krumme Type der zweite im kleinen Berliner Pulp Master Verlag erschienene Roman von Tom Franklin. Diesmal hat Franklin-Übersetzer Nikolaus Stingl den alttestamentarischen Sprachgestus, mit dessen Hilfe Smonk zu großen Teilen erzählt wurde, durch eine genaue, auf Details achtende, flüssige Diktion ersetzt. Abwechselnd aus der Perspektive seiner beiden Hauptfiguren, des weißen Mechanikers Larry Ott und des schwarzen Polizisten Silas Jones, Otts Jugendfreund, erzählend, entsteht so ein Panorama des amerikanischen Südens mit all den Widersprüchen, die das ländliche Amerika bis heute prägen.

Dass es nur der »Norman Bates« von Chabot gewesen sein kann, der 25 Jahre nach der ihm nicht bewiesenen ersten Tat nun erneut zugeschlagen und mit Tina Rutherford die Tochter des reichsten Mannes der Gegend entführt und ermordet hat, steht für die ermittelnden Beamten von Anfang an fest. Zumal Ott kurze Zeit nach dem Verschwinden der jungen Frau angeschossen in seinem abseits gelegenen Haus gefunden wird – offensichtlich das Opfer des Racheakts eines der schießwütigen Rednecks der Gegend, der nicht warten konnte, bis sich die Gerichte des Falls annahmen. Doch während Larry im Koma liegt und der örtliche Chefermittler French ungeduldig darauf wartet, ihn mit der Tat zu konfrontieren, weiß Silas Jones, dass es sich zumindest vor 25 Jahren anders verhalten hat und Ott seither mit einem Makel leben muss, den sein Freund jederzeit von ihm hätte nehmen können.

Zwei Freunde

Immer wieder aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückblendend, um die Geschichte der Freundschaft von Larry und Silas – eines Weißen und eines Schwarzen – zu erzählen, entfaltet Tom Franklin in Krumme Type, krumme Type das Bild einer Welt, in der Armut und Alkoholismus, rassistische Vorurteile und Existenzängste den Alltag bestimmen. Mit Chabot im Gerald County, tief im amerikanischen Süden gelegen, hat er sich als Ort der Handlung ein trostloses, heruntergekommenes Nest ausgesucht.

Hier haben die Geschäfte längst Pleite gemacht, seit der Walmart in dem nahe gelegenen County-Verwaltungssitz Fulsom die örtliche Kundschaft abzog. Selbst das letzte in Chabot ansässige Friseurgeschäft musste nach dem Tod seines Besitzers schließen. An den Abenden trifft man sich in einem zur Bar umfunktionierten ehemaligen Schulbus.

Leere Büros mit vernagelten Fenstern, Obdachlose und Cracksüchtige auf den staubigen Straßen, der Jeep, mit dem Ordnungshüter Silas Jones unterwegs ist, auf einer Auktion erstanden und kaum mehr fahrtüchtig – es ist eine triste Kulisse, bevölkert von Losern und mehr schlecht als recht vor dem endgültigen Chaos bewahrt von einer unterbezahlten Verwaltung, die darauf angewiesen scheint, dass durch das Ahnden von Verkehrsverstößen Geld in die klammen Kassen kommt. In Chabot existiert kein ordentliches Handynetz, Geldautomaten wurden längst abgebaut, dafür aber sorgen lockere Alkoholgesetze für den Rausch, den es braucht, damit man das Elend vergessen kann, in dem man leben muss mit nur noch einer funktionstüchtigen Fabrik, dem Sägewerk der Rutherfords, vor Ort.

Tristes ländliches Amerika

Unter lauter Verlierern, die sich die Zeit vertreiben, indem sie sich gegenseitig Klapperschlangen in die Briefkästen stecken, sind auch Silas Jones und Larry Ott alles andere als Gewinner. Der Betreiber des »Ottomotive Repair«-Betriebs, geerbt von seinem Vater, einer an der Durchgangsstraße gelegenen kleinen Autowerkstatt, an der kaum jemand Halt macht, und der unterbezahlte farbige Polizist, einst ein lokaler Baseballheld – nur sein Spitzname »32« ist ihm aus diesen längst vergangenen Tagen noch geblieben –, haben sich scheinbar abgefunden mit ihrem Leben in einer Provinz, wie sie Jahre später einen Großteil der Trump-Wähler hervorbringen sollte.

Allein das Verschwinden der siebzehnjährigen Tina Rutherford und der Überfall auf den Freund seiner Jugend lässt in Silas Jones plötzlich das Gewissen erwachen. Und indem er zu einer alten Schuld steht und verhindert, dass nicht noch einmal Vorurteile und falsche Schlussfolgerungen über die Wahrheit triumphieren und ein Leben ruinieren, muss er schließlich auch erkennen, dass ihn und Larry Ott mehr verbindet als die einst an Rassenschranken zerbrochene Jungenfreundschaft zweier Außenseiter.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Tom Franklin: Krumme Type, krumme Type
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl
Berlin: pulp master 2018
406 Seiten. 15,80 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein Gedankenkaleidoskop vor dem Einschlafen

Nächster Artikel

Resident Evil 2 – Es lebt!

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Fremd in der Heimat

Roman | Andreas Maier: Die Straße »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.« Diese Verse von Wilhelm Müller, die in Franz Schuberts Winterreise eingeflossen sind, beschreiben treffend die inneren Befindlichkeiten des jungen Protagonisten in Andreas Maiers neuem Roman Die Straße. Von PETER MOHR

Ein modernes Künstlerleben

Roman | Markus Orths: Max In seinem jüngsten Roman ›Max‹ beleuchtet der deutsche Schriftsteller Markus Orths die privaten, künstlerischen und politischen Wechselfälle des Malers, Grafikers und Bildhauers Max Ernst. Von BETTINA GUTIÉRREZ

Wer ich bin? Wer bist du?

Roman | Jürgen Bauer: Was wir fürchten Wie schon in seinem Debüttext aus dem Jahr 2013 Das Fenster zur Welt stellt Jürgen Bauer in seinem neuen Roman Was wir fürchten die Frage nach dem Urgrund des Menschen. In seinem Erstling fand er die Antwort noch ganz zielgerichtet in einem anderen Menschen, einem Gegenüber, einem Mitspieler und dessen Geschichte, Erfahrungen und Vergangenheit. Diesmal jedoch verunsichert er sein Lesepublikum stark. Denn den jungen österreichischen Autor interessieren nicht die Typen, die auf der Erfolgswelle des Lebens schwimmen oder zumindest nach außen hin die Fassade des Glücks und Erfolgs aufrecht halten können. Jürgen Bauer

Wenn die Landschaft Trauer trägt

Roman | Esther Kinsky: Hain »Jeden Morgen wache ich in einer Fremde auf«, heißt es in Esther Kinskys viertem Roman Hain, und das ist nicht nur geografisch gemeint. Eine Frau begibt sich an drei unterschiedlichen Orten in Italien auf Spurensuche. Als »Geländeroman« hat die 61-jährige Autorin und Übersetzerin ihr Werk bezeichnet. Man könnte es auch Landschaftsroman nennen, doch Gelände klingt wilder, ungezügelter – und so ähnlich geriert sich auch der Roman, der uns durch unwegsame Territorien führt. Von PETER MOHR

Fotzelschnitten und Psychowracks

Roman | Wolfgang Bortlik: Arme Ritter Wir schreiben das Jahr 1974: Kommunen, freie Liebe und der Kampf gegen das System stehen bei vielen Jugendlichen an der Tagesordnung. So geht es auch einer Vierer-WG, die für den politischen Zweck eine Kreissparkasse in Oberbayern überfällt. Doch was nun? Bis sie sich entscheiden, verstecken sie das Geld erst einmal bei Oma. Aber dann ist das Geld weg, samt einem der Bewohner. Die Gruppe trennt sich, jedoch ist damit die Sache noch lange nicht erledigt. Denn bis in das Jahr 2010 wirft das Ereignis seine Schatten … Bortliks neuer Roman ›Arme Ritter‹ über alternde