/

Tambora

Textfeld | Wolf Senff: Tambora

Nein, nicht ich, sagte der Ausguck, ich war nicht dabei.

Thimbleman lachte. Du warst noch gar nicht auf der Welt, stimmt’s?

Meine Eltern erzählten davon. Sie sagen, es sei schrecklich gewesen.

Ich weiß, Gramner erwähnte den Ausbruch.

Das Ende der Welt, sagt Gramner. Der Tambora befindet sich auf Sumbawa, einer Insel des Sundabogens östlich von Java. Weit, weit weg von unserer idyllischen Lagune, sagte der Ausguck

Endlos weit. Und dennoch – ein nie dagewesener Ausbruch zu Beginn unseres Jahrhunderts, sagt er, folgenschwer wie der des Krakatau, als schon das Jahrhundert zu Ende ging, Jahrzehnte nach unserer Zeit.

Stimme, laut störend: Die seitlichen Blöcke leiden unter einer stark verschobenen akustischen Balance. Ist die ›Elbphilhamonie‹ noch zu retten?

Mein Vater, ergänzte der Ausguck, erzählte von zwei entsetzlichen Jahren der Armut und des Hungerns. Von heute auf morgen sei das vertraute Klima kollabiert, und niemand habe sich das zu erklären gewußt, der Vulkanausbruch geschah doch im April 1815. Wer hätte da einen Zusammenhang vermutet?

Tomboro
Ausbruch des Tomboro

Das Jahr ohne Sommer war 1816?

Noch ein Jahr später, Thimbleman, noch ein Jahr später. Auf der nördlichen Halbkugel herrschten katastrophale Zustände, Neuengland und Kanada wurden schon 1816 zur Erntezeit von Frost und Schneestürmen heimgesucht, das Klima brach ein, die natürlichen Abläufe stürzten kopfüber, glaub mir, es ging zu wie in einem Tollhaus.

Vor unserer Zeit, Ausguck, vor unserer Zeit.

Wochenlang regnete es ohne Unterbrechung, Mißernten wurden eingefahren, die Preise stiegen und waren nicht aufzuhalten. Die Menschen hungerten, und damit war es ja nicht vorbei. In Kurda und auf Ceylon kam es zu antikolonialen Aufständen. In anderen Regionen Indiens breitete sich eine beispiellos bösartige Cholera-Epidemie aus. Überall loderte und brodelte es – sogenannte Brotunruhen in der Lombardei, in Burgund, in der Normandie, Tumulte im Königreich Bayern.

Johann Wolfgang Goethe, der, so erzählt Gramner, im Juni 1816 zu seiner Kur nach Baden-Baden aufbrach, mußte wegen der Wetterlage umdisponieren und reiste zum kursächsischen Schwefelbad Tennstädt, wo es ebenfalls Tag wie Nacht regnete, mitsamt Wolkenbruch und Gewitter. In Basel hielt eine aufgeregte Baronin Juliane von Krüdener Endzeitpredigten und verhieß den Elenden einen Tag der Rache.

Stimme, laut störend: Die globale Wirtschaft versucht Profit aus dem Klimawandel zu schlagen, vor allem in der Arktis, wo die Durchschnittstemperaturen deutlich schneller steigen als in anderen Teilen der Erde.

Der desaströse Zustand des Planeten bildete sich auf seine Bewohner ab. Doch schließlich stabilisierten sich die klimatischen Abläufe?

1819 war es soweit, ja, der Mensch ging zur Tagesordnung über, als ob nichts geschehen wäre.

Thimbleman lachte.

Gramner sagt, die globalen Auswirkungen des Tambora-Ausbruchs würden auch in der Zukunft ignoriert werden, der Ausbruch werde in Vergessenheit geraten. Im einundzwanzigsten Jahrhundert brüste sich  der Mensch mit seinem Fortschritt und seinen Wissenschaften. Historiker würden eifrig in der Vergangenheit forschen, doch niemand wolle an Tambora erinnert werden, sagt Gramner, der Mensch wolle von einer Katastrophe nicht wissen, niemand suche die Krise zu verstehen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Das einundzwanzigste Jahrhundert betrachte sich als eine Zeit der Spaßvögel und des schrankenlosen Vergnügens.

Hochmut kommt vor dem Fall. Thimbleman lächelte gequält.

Unerfreuliche Neuigkeiten, resümierte der Ausguck und streckte sich im warmen Sand der Lagune lang aus. Es ist aber Mitte des Jahrhunderts, sagte er, und nach allem, was man zu Ohren bekommt, leben wir in sicheren Zeiten.

Das redest du naiv daher, Ausguck. Erinnere dich an die Zustände in der Stadt, an den heraufziehenden Bürgerkrieg. Wir haben unverhofftes Glück mit unserem Walfang in dieser abgelegenen Lagune, wer weiß was morgen sein wird, und solange die Blessuren von der ersten Fangfahrt nicht ausgeheilt sind, erkunden wir die Lagune.

Du gehst ein paar Züge schwimmen?

Thimbleman lachte. Ich gehe ein paar Züge schwimmen.

Der Ausguck streckte sich im Sand.

| WOLF SENFF
| Abb: Leon Sonrel creator QS:P170,Q20898596, FMIB 50001 Eruption of Tomboro in 1821, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Wolf Senff, langjähriger Autor bei ›TITEL kulturmagazin‹, legt mit ›Scammon und der Wal‹ eine Erzählung vor, die einen faszinierenden Einblick in Aufstieg und Niedergang einer bedeutenden Technologie gibt.
Darüber hinaus zeugt die Erzählung von dem todesmutigen Kampf gegen eine heutzutage immer noch praktizierte Jagd auf Wale, lenkt unseren Blick aber auch auf die vor allem durch andere Ursachen gefährdete Existenz unserer großen Meeressäuger.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Spuren menschlicher Interaktion

Nächster Artikel

Gefühlschaos pur

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Ausgespielt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausgespielt

Gramner habe das Thema satt, er würde sich darüber amüsieren, sagte der Ausguck, lachte, nahm kurz Anlauf und schlug einen Salto.

Sich so balanciert zu bewegen, so elegant, so scheinbar schwerelos, fragte Thimbleman, wie sei das möglich.

Der Ausguck lachte und erinnerte nur wieder an Gramners Worte: Eine Epoche tituliere sich als ›modern‹ und erwecke den Eindruck, alle früheren Zeitalter gehörten in die Mottenkiste.

Irre. Ein Marketing, das Maßstäbe setzt.

Kulturen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturen

Dreitausend Jahre sind eine lange Zeit. Selbstverständlich gab es Umbrüche, Fremdherrschaft, wechselnde Dynastien, neue religiöse Akzente, Siege und Niederlagen, keine Frage, aber die Kontinuität der altägyptischen Kultur blieb unverändert.

Kein Ausweg

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kein Ausweg Auf Dauer fällt es schwer, ihm zuzuhören, findest du nicht, Thimbleman? Schon, ja. Auch wenn er ja recht hat. Daß er nur Katastrophen heraufbeschwört, kannst du aber auch nicht behaupten, Ausguck. Nein, nicht. Und wenn es nun einmal so ist – was kann man tun?

Eskalation

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eskalation

Weshalb im März ein Ventilator in Betrieb war, das sollte einmal jemand erklären. Erst im Mai würde es heiß, so viel stand fest, die auch preislich noch einmal angehobene Saison begann im Mai, und wenn überhaupt, wäre das eine geeignete Zeit für Ventilatoren. Die Abläufe im Lager, kein Zweifel, waren lückenhaft organisiert.

Waren Ventilatoren neuerdings schick? War ein Boom angesagt? Sollte man Aktien kaufen? War der Bürokrat aus Uelzen eingetroffen?

Leben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leben

Wo stammt das Leben her, von irgendwoher muß es ja kommen, oder ist es bloß einfach da, sonst nichts, unvorstellbar.

Das beschäftigt dich, Tilman?

Wo sein Ursprung liegt und wie das Leben sortiert ist, gewiß, das beschäftigt mich, ob einem Tier mehr davon zuteil wird als einer Pflanze, dem mächtigen Baum mehr als dem stillen Gänseblümchen, auf welche Weise ich daran teilhabe, und blüht das Gänseblümchen auch für mich.