/

Der Robin Hood von L.A.

Roman | Ryan Gattis: Safe

Vor anderthalb Jahren erregte der in Los Angeles lebende Ryan Gattis (Jahrgang 1987) mit seinem Debütroman In den Straßen die Wut große Aufmerksamkeit. Nun hat er einen zweiten Roman vorgelegt. Wieder ist Gattis Heimatstadt die Kulisse für ein atemberaubendes Gangsterstück. Und ging es in dem Erstling um die 1992er Unruhen nach dem Freispruch für vier Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King ein Jahr vorher nach einer wilden Verfolgungsjagd unverhältnismäßig brutal zusammengeschlagen hatten, so spielen die so genannten »Los Angeles Riots« auch in dem im Krisenjahr 2008 angesiedelten Safe noch eine wichtige Rolle. Eine Rezension von DIETMAR JACOBSEN

Ryan Gattis: SafeRicky Mendoza jun., den sie »Ghost« nennen, arbeitet als Freiberufler im Sicherheitsgewerbe. Seitdem er sich das Safeknacken von einem Experten namens Frank, dessen Tochter er während einer Krebstherapie im Krankenhaus kennenlernte, abgeschaut hat, ist er zu einem der Besten in diesem Gewerbe aufgestiegen. Inzwischen freilich ist er als »Justizangestellter« mal für die Rauschgiftfahnder von der DEA, mal für das Bundeskriminalamt FBI tätig. Wenn seine neuen Verbündeten eine Wohnung hochnehmen, in der Drogen gelagert oder verkauft werden, rufen sie Ricky an, damit der ihnen den Geldschrank öffnet.

Was sie nicht wissen: Mendozas Hirntumor, der als geheilt galt, hat sich zurückgemeldet. Und weil der Mann glaubt, nun nichts mehr verlieren zu können, verfolgt er gemeinsam mit seiner aktuellen Freundin Mira, einer Bankangestellten, einen irrwitzigen Plan: Wo Tausende gerade zu Opfern der Immobilienkrise werden, wollen die zwei mit dem Geld aus den Drogengeschäften so vielen wie möglich helfen, ihren Kreditverpflichtungen nachzukommen.

Mit Drogengeldern Schulden tilgen

Auch Rudolfo Reyes will ein neues Leben beginnen. Die rechte Hand des Drogenkönigs von L.A. hat sich schon viel zu lange in dessen schmutzige Geschichten verwickeln lassen. Aber auszusteigen ist gefährlich, wenn man noch Angehörige jenseits der Grenze, in Mexiko, hat, wo es die Kartelle ganze Dörfer büßen lassen, wenn einer ihre Geschäfte stört. Also liefert er der Polizei mit einer Liste jener Orte, an denen die Gangs ihre Einnahmen aus dem Drogengeschäft aufbewahren, gute Argumente, sich um die Sicherheit seiner kleinen Familie zu kümmern.

Doch als Ghost an jene Liste kommt und beginnt, die Safes vor der Polizei leer zu machen, muss auch Rudolfo noch einmal los, um den Schein zu wahren und dem »Ghetto-Robin-Hood«, wie er ihn nennt, seine Beute wieder abzujagen.

Safe spielt im Jahr der großen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008. »Irgendwelche Lehman-Brüder stecken in der Scheiße«, heißt es an einer Stelle des Romans. Die Folge: »Wenn die Wirtschaft abschmiert, steigt die Verbrechensrate.« Doch Gattis‘ Helden wollen beide raus aus dem Geschäft und ein für allemal sauber werden.

Was freilich schwierig ist in einer Welt, in der die Korruption alle Bereiche durchdringt – selbst jenen der Ordnungshüter, für die Ricky Mendoza arbeitet und von denen sich Rudolfo Reyes freikaufen will, indem er ihnen verrät, wo in der Stadt sein Boss Drogen und Geld versteckt.

Geschichten überleben und verändern den Blick auf die Welt

Doch Ghost hat ein Argument für sich, dass ihn vor der Rache der bestohlenen Gangster und ihres Bosses Rooster schützen kann: seine Fähigkeit, jeden noch so raffiniert gebauten Safe öffnen zu können. Und als er dem Drogenkönig schließlich gegenübersteht, ist er sogar in der Lage, ihm ein Geschäft anzubieten, das beiden Seiten von Nutzen sein kann.

Denn irgendwo, in einer alten Lagerhalle, stehen noch Dutzende von Geldschränken und warten seit mehr als 16 Jahren, seitdem sie bei den Unruhen vom April/Mai 1992 nämlich aus geplünderten Geschäften und Büros verschwanden, darauf, geknackt zu werden. Also warum nicht seine speziellen Kenntnisse einsetzen für einen Anteil an der zu erwartenden reichen Beute, mit dem noch mehr von der Krise Betroffenen geholfen werden kann, als sich das Ghost je vorzustellen wagte?

Ryan Gattis Roman spielt an drei Tagen im September 2008. Abwechselnd aus der Sicht seiner beiden Hauptfiguren nimmt der Leser an dem Geschehen teil. Überleben wird am Ende nur einer der beiden Protagonisten – aber das steht von Anfang an fest und verleiht dem Mann die moralische Kraft, nach einem Leben im Sumpf des Verbrechens nun in doppelter Hinsicht auf »die andere Seite« zu wechseln. Dorthin, wo auf ihn das Mädchen wartet, von dem er noch ein Tape besitzt, dessen zwei Seiten sie mit Punksongs für sich und ihn bespielt hat, Songs, die ihn begleiten wie Geschichten, von denen er weiß, dass sie »zum Stärksten gehören, das es auf der Welt gibt […] Weil Geschichten dich überleben. Geschichten können in andere Menschen eindringen und dort weiterleben. Geschichten sind wie Brillen, irgendwie. Sie verändern deine Sicht auf die Welt.«

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Ryan Gattis: Safe
Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Michael Kellner
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2018
414 Seiten. 20,- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine eifrige Bastlerin und das großartigste Ding der Welt

Nächster Artikel

Straßenkinderkram

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Sarah Lund

Krimi | TATORT – Aus der Tiefe der Zeit (BR), 27. Oktober & Komissarin Lund: DVD-Box Wir sahen 2012 im ZDF die fünfteilige dänische Serie Die Brücke, im Kino Stieg Larssons Millenniumtrilogie Verblendung, Verdammnis, Vergebung (Schweden, 2009). Aus welchem Grund das nördliche Europa so hervorragend Krimi kann? Man weiß es nicht. Kommissarin Lund lief in Dänemark im Januar 2007 an und wurde in zwanzig Folgen zu je 55 Minuten gesendet, das ZDF sendete ab 14. September 2008 in zehn Folgen wöchentlich zu jeweils 105 bis 115 Minuten, das österreichische ORF sendete ebenfalls zehn Teile, beginnend am 3. Juli 2009. Von

Wer investiert, verliert

Roman | Petros Markaris: Das Lied des Geldes

Mitten in Athen wird die Linke zu Grabe getragen. Initiiert von Lambros Sissis, dem Freund des soeben zum stellvertretenden Kriminaldirektor beförderten Kostas Charitos. Der steht der Aktion des enttäuschten Altkommunisten zwiegespalten gegenüber. Einerseits kann er den Mann verstehen. Andererseits fürchtet er, in die gerade entstehende Protestbewegung der Armen, die sich von den eigenen Politikern betrogen fühlen, könnten sich Elemente mischen, die Fremdenfeindlichkeit und Gewalt predigen. Ihn selbst beschäftigen gerade ein Mord und ein damit in Zusammenhang stehendes Lied, die scheinbar nichts zu tun haben mit Sissis Initiative. Doch da irrt der Mann gewaltig. Von DIETMAR JACOBSEN

Rufschädigend

Film | Im TV: ›TATORT‹ – Der Irre Iwan (MDR), Neujahrstag, 20.15 Uhr »Wie viele Mitarbeiter beschäftigen Sie?« – »Dreiundsechzig, nein, entschuldigen Sie, zweiundsechzig. Ich hatte Frau Kleinert noch mitgezählt!« Korrekt gezählt ist unverzichtbar, und Sie merken schon, dieser Film will witzig sein, das könnte ja ein wertvoller Vorsatz sein, und kühler Witz, klug gehandhabt, kann jeden ›TATORT‹ bekömmlich würzen. Von WOLF SENFF

Wein und windige Websites

Roman | Deon Meyer: Icarus Die Leser von Deon Meyer haben mit Bennie Griessel schon einiges durchgestanden – private Enttäuschungen, Rückschläge im Beruf und Alkoholentzug. Aber immer hat sich der weiße Polizist vom Kap wieder aufgerafft. Und er hatte Menschen, die ihm dabei zur Seite standen. Befreundete Kollegen, die Sängerin Alexa Barnard, mit der er liiert ist, seine beiden Kinder, zu denen er losen Kontakt hat. Doch als er im aktuellen Roman Icarus erleben muss, wie einer seiner Kollegen sich selbst, seine Frau und seine beiden Töchter erschießt, weil er die eskalierende Gewalt um sich herum nicht mehr ertragen kann,

Kommissar Daquin und die Büchse der Pandora

Roman | Dominique Manotti: Schwarzes Gold Nachdem zuletzt in der Ariadne-Reihe des Hamburger Argument Verlages vor allem ältere Bücher von Dominique Manotti erschienen sind, hat man mit Schwarzes Gold nun den jüngsten Roman der erst spät zum Schreiben gekommenen Wirtschaftshistorikerin auf Deutsch herausgebracht (Übersetzerin ist die im Verlag für Lektorat und Produktion verantwortliche Iris Konopik). Er besitzt alle Qualitäten, für die man seine Autorin seit dem Erscheinen ihrer Romane hierzulande rühmt, hat 2016 in Frankreich den Grand prix du roman noir gewonnen und präsentiert mit Théo Daquin eine Hauptfigur, die Manotti-Leser bereits kennen. Von DIETMAR JACOBSEN