Kumeyaay

Textfeld | Wolf Senff: Kumeyaay

In der Stadt herrschen chaotische Zustände, da habe Gramner recht, sagte Pirelli, aber deshalb zu behaupten, die Menschen wüßten nicht miteinander umzugehen, damit gehe er zu weit.

Er rede ja nicht über die Gegenwart, widersprach Mahorner, sondern wie sonst auch über die Zukunft.

Er mahnt und warnt, sagte Crockeye.

Er wolle die Zukunft verändern, sagte Sanctus.

Crockeye tippte sich an die Stirn.

Der Ausguck lächelte ratlos.

Der komplette Küstenabschnitt von Frisco bis weit über San Diego hinaus nach Mexiko, sagt er, sei existentiell gefährdet. Wir sind dort entlang gesegelt, oder?

So sagt es Gramner, Pirelli. Aber wodurch gefährdet? Wie meine er das?

Die Gefährdung, sagt er, wachse exponentiell. Wir müßten uns daran gewöhnen, sagt er, daß die Städte während der nächsten zwei Jahrhunderte größer würden als je zuvor, dieser Landstrich werde lückenlos besiedelt. Los Angeles werde mit vier Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Vereinigten Staaten sein, in der erweiterten Metropolregion Greater Los Angeles würden knapp achtzehn Millionen Menschen leben.

Das sind unvorstellbare Dimensionen, sagte Bildoon, woher weiß er das alles?

Er weiß es eben, sagte Harmat.

Weil die Zuwanderer so zahlreich nachdrängen würden, sagt Gramner, werde das Land in Parzellen aufgeteilt und großzügig vergeben. Dagegen würden Vorbehalte und Einwände erhoben, zum Beispiel 1965 von Garrett Eckbo für das staatliche Planungsamt oder in einer Studie des Unternehmens Eckbo, Dean, Austin, Willams EDAW der siebziger Jahre, die weiträumige unbebaute Flächen verlangten sowie einen Rückbau von Vorstädten zu öffentlichen Grünflächen, außerdem sei die Bebauung in ökologisch sensiblen Regionen wie Malibu oder den Santa Monica Mountains strikt zu regulieren.

Denn von einem wirksamen Schutz für öffentliche Freiflächen im County Los Angeles könne keine Rede sein, sagt er, letztlich setzten sich die Spekulanten durch.

Was zähle, sei die Gier, nichts sonst, die Behörde werde korrumpiert, sagte Mahorner, die Rücksicht auf die Natur oder gar der Respekt vor der Natur fallen nicht ins Gewicht.

Das findest du nicht erst in der fernen Zukunft, wandte Thimbleman ein, es genüge ein Blick zu den Goldgräbern und ihren Claims.

Die Natur werde ausgebeutet, ergänzte der Ausguck.

Oder sieh in die Stadt, sieh darauf, wie die Menschen dort miteinander umgehen, sagte Bildoon.

Was die Zukunft gefährde, treibe heute Wurzeln aus, er sehe keinen Unterschied, sagt Gramner, der Mensch habe den Irrweg längst beschritten.

Er verweist auf die indigenen Stämme, die die Feuer nicht bekämpft, sondern jährlich geringe Buschbrände der Chapparal-Vegetation kontrolliert zugelassen oder selbst entfacht hätten und sich einrichteten in ihrer Welt. Der moderne Mensch jedoch breite sich in den Vorstädten aus und dränge die Natur zurück. Die Feuer hätten deshalb eine verheerende Wirkung, auch die bewohnten Regionen würden zum Opfer der Flammen.

Seit zehntausend Jahren, sagt Gramner, lebten die Stämme der Kumeyaay im äußersten Südwesten Kalifornien und der nördlichen Baja California – man müsse sich das vorstellen, sagt er: zehntausend Jahre. Die spanischen Invasoren hätten sie binnen weniger Jahrzehnte vertrieben, sagt er, ihr Lebensraum wurde auf einige Reservate beschränkt.

Die Stämme, sagt Gramner, kultivierten das Land im Lauf vieler Jahrtausende, sie nutzten Brandrodung und etablierten einfache Systeme, um den Grundwasserspiegel zu stabilisieren und der Erosion vorzubeugen. Die natürlichen Abläufe wurden ausbalanciert, sagt er. Er könne das nicht oft genug wiederholen, das müsse der sogenannten Moderne immer wieder vorgehalten werden, die diesen Landstrich binnen einer winzigen Frist von kaum drei Jahrhunderten so verheerend verwüstet habe. Kalifornien stehe in Flammen und drohe unbewohnbar zu werden.

Eldin runzelte die Stirn.

Der Ausguck blickte sehnsüchtig zum Strand.

Seine eigenen Versäumnisse holen den Menschen ein, sagte Thimbleman.

Was gehe ihn das an, fragte sich Harmat. Doch er war fasziniert von Gramners Vortrag, er konnte sich dem magischen Ton der Stimme nicht entziehen, und er war nicht der einzige, der sich auf diese Weise angenehm unterhalten fühlte. Er lächelte versonnen.

Zehntausend Jahre, sagt er, sind eine Ewigkeit, verglichen mit den drei Jahrhunderten, die der Mensch benötigte, um den Planeten zu plündern und seine klimatischen Abläufe umzustürzen. Zehntausend Jahre lang, sagt er, war der Planet pfleglich behandelt, der Mensch respektierte die Gegebenheiten und hatte seinen Platz unter den täglichen Abläufen. Was geschah, daß sich der Mensch so von Grund auf veränderte?

Nein, sagt er, die Stämme der Kumeyaay verfaßten keine Geschichtsbücher, bei ihnen hatte niemand den Wunsch, sich für alle Ewigkeit in die Annalen einzutragen, ihr Verständnis von Leben ist grundsätzlich anders, versteht ihr, sagt er, sie ernährten sich von einem niedrig stehendem Getreide, das unter den kargen klimatischen Umständen gedieh. Die spanischen Invasoren hielten es für Unkraut.

Ihre Pflanzen waren nach Jahrtausenden Erfahrung diversifiziert, die Früchte wuchsen zeitlich über das Jahr hin verteilt, es gab keine Saison für die Aussaat und für die Ernte, sagt er, manch eine Saat hielt sich über Jahre im Boden, bis ein Regen, der zu geeigneter Zeit fiel, das Wachstum auslöste. Einige ihrer Pflanzen trugen in trockenen Jahren bei geringstem Niederschlag Früchte. Dieses ausgeklügelte System sicherte das Überleben in einer kargen Region.

Sie legten selbst Feuer und wandten sie erfolgreich an, damit der Pflanzenwuchs ausbalanciert blieb und Großfeuern die Nahrung fehlte. Die Stämme der Kumeyaay waren mit der Natur verwachsen. Was geschah, daß sich der Mensch so von Grund auf veränderte?

| WOLF SENFF

Literaturangaben
Angaben zu den Kumeyaay nach
Thomas Blackburn, Kat Anderson (Hg.), Before the Wilderness
Environmental Management by Native Californians
Menlo Park, ca. 1993

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Sacred Dreams and Trivial Occupations: New Release Reviews

Nächster Artikel

Hasenkrimi

Weitere Artikel der Kategorie »TITEL-Textfeld«

Suizid

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Suizid

Farb hatte von Anfang an auf Selbstmord getippt, er war aufgeregt, als er jetzt die Kurzmeldung las, und sah seine Selbstmord-These bestätigt. Einige seiner Freunde, sagte Farb, hätten den Mann persönlich gekannt, der Mann habe keinen einzigen Tag im Ghetto verbracht. Er lachte. Viele Gäste würden, statt daß sie zum Salzmeer gingen, die Dachterrasse ihres Hotels aufsuchen, das seien verschiedene Welten, im Ghetto bekomme sie niemand zu Gesicht, sagte er, legte die Zeitung beiseite und setzte sich wieder.

Am Ende

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Am Ende

Die widrigen Abläufe, sagte Termoth, seien so offensichtlich, und weshalb stehe niemand auf, sie innezuhalten.

Wovon rede er, fragte Harmat.

Die Moderne bahne sich an, sagte Thimbleman, sie hinterlasse jetzt schon einer breite Spur der Vernichtung, du siehst es auch daran, daß die anmutigen Windjammer durch stinkende Dampfschiffe ersetzt werden, und das, sage er, sei erst der Anfang.

Walfang

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Walfang

Wir kennen überzeugende Beispiele für erfolgreichen Rückbau.

Das wäre?

Die Historie des industriellen Walfangs.

Du redest nicht über Scammons Walfänger in der Ojo de Liebre?

Nein, Susanne, sie sitzen in ihrer Lagune, zeitlich und örtlich in weiter Ferne, es fällt ihnen leicht, über unsere Gegenwart zu reden, sie sind nicht in das aktuelle Geschehen verstrickt, ihre Existenz ist nicht durch die klimatischen Veränderungen gefährdet, und ihre Erzählung klingt, wie wenn wir über Vergangenheit reden.

Renaissance

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Renaissance

Die länger als drei Jahrtausende bestehende Kultur teilt sich historisch in mehrere Abschnitte.

Wieder Ägypten, stöhnte Farb.

Das lasse ihn nicht los, sagte Anne.

Farb warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen.

Und sei brandaktuell, ergänzte sie, ihn beschäftigt die Saitenzeit des siebenten und sechsten Jahrhunderts, ein Abschnitt der Spätzeit und der Renaissance des Altertums.

Tilman lächelte.

Vier Gedichte

Textfeld | Ingrid Glienke: Vier Gedichte AQUANAUTEN straßen kanäle nach norden geöffnet schnee stiebt in feinen kristallen leuchtet auf in lichthöfen glitzernde fischschwärme im strom auf kommando der windböen drehen ins waagerechte gehen auf fühlung trommeln eisschuppen ins gesicht frostflössel vor die wimpern zwischen uns treiben hände lederhäutige unterwassergewächse