Das Ticken der Standuhr

Literatur | Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten

Wie ein Märchen liest sich Ferdinand von Schirachs kometenhafter literarischer Aufstieg in den letzten zehn Jahren. Der renommierte Strafverteidiger und Enkel des einstigen NS-Reichsjugendführers hatte 2009 unter dem Titel Verbrechen einen schmalen Band mit Kriminal-Erzählungen vorgelegt, der mehr als 150 000mal verkauft wurde. Offensichtlich hatte der Jurist den »Nerv der Zeit« getroffen und mit den erzählten Fällen aus seinem juristischen Kanzlei-Alltag auch einen latenten Voyeurismus befriedigt. Seine Bücher wurden zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern und sind bisher in 40 Ländern erschienen. Von PETER MOHR

Kaffee und Zigaretten»Nach all diesen Jahren habe ich begriffen, dass die Frage, ob der Mensch gut oder böse ist, eine ganz und gar sinnlose Frage ist«, heißt es im neuen Band des 55-jährigen Autors, der 48 durchnummerierte Texte enthält, die zumeist einen autobiografischen Hintergrund haben und deren Lektüre selten mehr Zeit erfordert als eine Zigarettenlänge und der Genuss einer Tasse Kaffee.

Eingeleitet wird der Band mit einem stenografisch anmutenden Fragment aus der Kindheit, in dem Ereignisse nüchtern aneinander gereiht werden – vom Tod des Vaters bis zum eigenen Selbstmordversuch mit 15 Jahren. Nur selten verlässt von Schirach seine strenge faktenorintierte Erzähllinie und geht ins Detail, etwa, als er sich an das »Ticken der Standuhr« in seiner Kindheit erinnert.

Rauchen und Kaffee sind Fixpunkte, kurze Phasen des Innehaltens, des Zu-sich-selbst-kommens in einem streng durchgetakteten Alltag. Rauchen ist für ihn aber auch ein Stück Lebensgefühl, in einer Zeit der Rauchverbote in öffentlichen Räumen soll es Ausdruck des Nonkonformismus sein. Das Rauchen wird zur Pose stilisiert, und die erzählerischen Petitessen werden mit prominenten Zeitgenossen wie Lars Gustafsson, Imre Kertész und Michael Haneke ausstaffiert. Außerden widmet sich von Schirach den Lebensläufen der so unterschiedlichen »Juristen-Kollegen« Otto Schily, Christian Ströbele und Horst Mahler.

Obwohl von Schirach über sein eigenes Leben schreibt und sein Inneres nach Außen zu kehren versucht, unterscheidet sich der Stil nicht von seinen literarisch-juristischen Fallgeschichten. Nüchtern, beinahe protokollarisch, ohne spürbaren Ausschlag auf der Empathie-Skala.

Er geht mit zu bewertenden kriminalistischen Fakten offenbar ebenso kühl um wie mit dem eigenen Erleben. Für Emotionen ist kein Platz vorgesehen. Vor Gericht durchaus verständlich, beim erzählerischen Blick auf die eigene Vita eher befremdlich.

Alles wirkt streng rational abgearbeitet, Krisen werden im großen Zusammenhang philosophisch analysiert, und es entsteht das Bild eines jungen Menschen, der sein eigenes Handeln schon früh als an gesellschaftlichen Normen orientierter Funktionsträger in einem soziologischen Makrokosmos versteht.

Hier und da hätte man sich das Einschreiten eines aufmerksamen Lektorats gewünscht. Als von einem Trump-Besuch bei Queen Elisabeth die Rede ist, heißt es: »Prinz Philip, der 80-jährige Ehemann der Queen, muss laut Hofprotokoll bei offiziellen Anlässen immer hinter ihr bleiben.« Prinz Philip hatte bei Trumps Amtsantritt aber schon die neunzig weit überschritten. Aber geschenkt. Es sind eben nur Texte für zwischendurch, bei Kaffee und Zigarette, und ohne nachhaltigen Eindruck.

»Es ist nicht schlimm zu sterben, aber es ist schlimm, aufzuhören zu lieben.« Das ist der emotionalste Satz des Buches, den von Schirach einer alten Frau in den Mund gelegt hat.

| PETER MOHR

Titalangaben
Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten
München: Luchterhand Verlag 2019
187 Seiten, 20.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine Wunderwaffe

Nächster Artikel

Lear has fallen

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Kirschenessen

Gesellschaft | Hans Joachim Schellnhuber: Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung genießt in der Klimaforschung hohes Ansehen, und sein Gründungsdirektor legt terminlich passend zur Weltklimakonferenz, die Anfang Dezember in Paris stattfindet, ein umfangreiches Werk zur Lage des Klimas vor. Von WOLF SENFF

Nahöstliche Schrecken

Guido Steinberg: Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror Bis 2013 schien die arabische Welt noch ganz in Ordnung zu sein: der Irak und sein Öl waren trotz aller Unruhen fest in der Hand der USA, die vom Westen favorisierte Fraktion der Assad-Gegner gewann in Syrien an Boden, in Ägypten und Libyen waren besonders beunruhigende Figuren beseitigt. Das hat sich radikal geändert mit der schnellen Ausbreitung des IS. Guido Steinberg von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik will in ›Kalifat des Schreckens‹ zeigen, wie es dazu kam. Von PETER BLASTENBREI

Verdeckte Kriegführung der CIA

Gesellschaft | Alfred McCoy: Die CIA und das Heroin. Weltpolitik durch Drogenhandel In den vergangenen Jahren wurden diverse Untersuchungen publiziert, durch die unser Geschichtsbild zurechtgerückt wurde. Woran das liegen mag? Die Machtkonstellationen auf dem Planeten verschieben sich, und Prozesse, denen zuvor wenig Beachtung geschenkt wurde, zeigen sich in neuem Licht. Der rezensierte Band erschien – nach Versuchen der CIA, Einfluss auf das Manuskript zu nehmen – 1972 in den USA, löste dort einen Skandal aus und wird nun nach 2003 erneut in deutscher Übersetzung vorgelegt. Von WOLF SENFF

Die Herren der Welt

Sachbuch | Aram Mattioli: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700 – 1910 Einsicht, hieß es einst, sei ein Weg zur Besserung. Ohne Einsicht in eigenes Fehlverhalten sei keine Reue möglich und schon gar keine aufrichtige Entschuldigung. Einsicht betreffe das Verständnis für die Tragweite eigenen Fehlverhaltens. Die Lektüre von Aram Mattioli, ›Verlorene Welten‹, der uns die Wirklichkeit der Ereignisse im Nordamerika jener Tage in ein neues Licht stellt, verleiht massiv Gelegenheit zur Einsicht. Von WOLF SENFF

Der neofeudale Zugriff

Gesellschaft | Hannes Hofbauer: Die Diktatur des Kapitals Der Begriff Postdemokratie, 2003 von Colin Crouch geprägt, ist fester Bestandteil der kapitalismuskritischen Debatte. Hofbauer greift in seinem Beitrag diesen Begriff auf, und nicht nur die Gegenwart, sondern auch der Rückblick auf die Jahrzehnte seit Kriegsende sieht auf einmal gänzlich anders aus, als uns der mediale Mainstream glauben machen möchte. In den westlichen Gesellschaften werde die Macht durch Oligarchen und Spitzenpolitiker ausgeübt und medial abgesichert. Von WOLF SENFF