Drachen auf Schäferhundgröße und Ghulacamole

Jugendbuch | Dita Zipfel: Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte

Manchmal fällt etwas Wahnsinn in die normale Welt und richtet Chaos an. Oder stiftet einen neuen Sinn, wie in Lucies Fall, der aber gar nicht so richtig zu erklären ist. Dita Zipfels erstes Jugendbuch erzählt phantasievoll von einer etwas anderen Art von Realität. VON GEORG PATZER

Zipf Wahnsinn Ganz dringend braucht sie Geld, viel Geld. Dann sieht sie diesen Aushang im Supermarkt, da wird jemand zum Hundeausführen gesucht. Steht vor der Haustür und klingelt. Jemand lugt durch den Spion, und sie hört: »Geh weg. Mädchen!« Und: »Keine Mädchen!« Aber das stand nicht auf dem Zettel. Sie klingelt weiter. Die Tür öffnet sich: »Was das!« »Äh, was?« »Das! Was das!« Ein Smoothie, den sie in der Hand hält.

Plötzlich macht es Swoosh. »Oder so ähnlich. Jedenfalls irgendein Geräusch, ein schnelles. Er hat mir den Becher entrissen. Gesehen habe ich nur seine Hand. Diese Hand, die aus dem Türspalt hervorgeschnellt ist wie die Zunge eines Frosches, die sich an meinen Becher geklebt hat und dann wieder im Türschlund verschwunden ist. Und auch wenn es nur kurz war, ich bin mir sicher: Noch nie habe ich so eine Pranke gesehen. Eine Hand, mit der man Saft aus Äpfeln pressen und locker zwei Feldhasen gleichzeitig erwürgen kann. Ich fasse mir kurz an den Hals.«

Das ist die erste Begegnung von Lucie mit Herrn Klinge. Er probiert den Smoothie und lässt sie dann doch rein. »Herr Klinge trägt Weste, Hose und Hemd in verschiedenen Grüntönen und mit zusammengenommen ungefähr fünfzig Taschen, die alle irgendwie gefüllt aussehen. Ein übertriebener Förster im Hochhausblock. Überall Haken, ein Helm und ein ordentlich zusammengewickeltes Seil am Gürtel, als wollte er sich jeden Moment aus dem obersten Stock abseilen. Ehrlich gesagt, so rein körperlich würde ich es ihm sogar zutrauen. Auch wenn er faltig ist, er sieht extrem fit aus. Wie ein viel benutzter Turnschuh. Ein vom Leben zum perfekten Werkzeug geformter Körper.«

Aber Herr Klinge hat gar keinen Hund zum Ausführen, Lucie soll stattdessen Kochrezepte aufschreiben, die Herr Klinge erfunden hat und ihr diktiert: »Errpsen, Aalivenoil, Zitronie«, daraus macht man Ghulacamole. Sein Kommentar dazu: »Macht Tsunami statt Welle, das knackige Auge des Ghuls.« Das Rezept für den Liebestrank namens Heartchup beginnt mit »zwei Kilo Troomatten, 250 Gramm Zweibeln« … Und so geht es weiter. Nach einer Stunde ist Herr Klinge müde und schiebt sie aus der Tür. Fragt noch: »Wie heißt du überhaupt?« Sie antwortet: »Lucie. Schmurrer.« Und er antwortet: »TZZZZ! Das ist nicht dein Name, Mädchen. Guck dich doch mal an.« Und draußen ist sie.

Höchst schräg ist Dita Zipfels erstes Jugendbuch. Aber nur zum Teil. Denn Herr Klinge ist schon anders als alle anderen, die Lucie kennt – und wahrscheinlich anders als alle, die wir kennen. Er erfindet »Telepaté – Kuchen, der Gedankenübertragung möglich macht«, und »Nonasi Goreng, betäubt den Geruchssinn vorübergehend«. Lucie allerdings hat die ganz normalen Sorgen eines Teenagers: Sie lebt mit ihrer Mutter und ihrem Bruder zusammen, und dummerweise gerät die Mutter immer wieder an Männer, mit denen Lucie nicht auskommt. Jetzt ist es »der Michi«. Ihre Beschreibung: »sanfte Stimme, langes Haar. Lieblingsmusik: Wale, die auf der Panflöte gregorianische Mönchsgesänge imitieren. Alter: unklar. Herkunft: Yogakurs.« Der nistet sich nicht nur ein, sondern fängt auch an, über sie bestimmen zu wollen, mischt sich in alles ein, auch in das Essen: »Toprak war Muslim, Robert war laktoseintolerant. Der Michi ist Veganer. Jeder von Mamas Typen hat sein Essverhalten mitgebracht wie ein Haustier, das im Kühlschrank wohnt. Mama meint, das macht uns zu offeneren, toleranteren Menschen, wenn wir alle die vorübergehenden Essensgesetze befolgen. Stimmt natürlich nicht. Mich macht es vor allem wütend.« Den Fernseher verbannt er. »Wegen der Strahlung. Computer scheinen aber okay zu sein. Logisch. Als Erwachsener kann man Regeln einfach erfinden und verbiegen, Ausnahmen bestimmen und Widersprüche ignorieren.« Dann muss Lucie für ihn sogar ihr Zimmer räumen und sich mit ihrem kleinen Bruder eines teilen. Ihr Fazit: »Mamas Gene machen, dass sie nicht anders kann, als sich jedes Mal wieder in die größte Schwachflöte weit und breit zu verlieben.«

Und auch sie verliebt sich in den falschen, »in den größten Angeber« ihrer Schule, der sie ausspioniert und dann öffentlich bloßstellt. Es dauert eine Weile und ein, zwei schmerzhafte Erfahrungen, bis sie merkt, dass er ein egozentrisches, gefühlloses Biest ist. Dann wird sie auch noch von drei hochnäsigen Mädchen aus ihrer Klasse gemobbt – das Leben ist nicht einfach für Lucie. Und deswegen braucht sie Geld: Sie will nach Berlin, zu Bernhardine, der ehemaligen Freundin und Geliebten ihrer Mutter. Mit ihr war alles licht und bunt und lebendig, und der Flur roch nach Leben und Liebe …

Herr Klinge ist jedenfalls eine Klasse für sich. Immer in Grün gekleidet, uralt (so kommt es Lucie vor), dabei aber topfit, äußerst gelenkig und sehr schnell, auch im machetenhaften Zerteilen von fliegendem Getier. Einmal sieht sie ihn mit anderen Mädchen im Supermarkt: »Er trägt einen bodenlangen Fellmantel und diese schwarzen Gesundheitsschuhe mit der wahnsinnig dicken, halbmondförmigen Schaukelsohle. Er sieht aufgebracht aus, er schüttelt an den Leuten, die irritiert versuchen, ihre Zucchini in den Wagen zu legen. Er sieht albern aus, durchgedreht, wie er so durch die Gänge springt. Jetzt versucht er, den Leuten ihr Gemüse aus den Händen zu reißen.«

Später erklärt er ihr, was ein Ghul ist: »Das schwarze Schaf! Der böse Bruder, der verlorene Sohn der Vampirfamilie. (…) Das Gefährlichste an ihm ist seine Rotze. Sie brennt Löcher in deine Haut, lässt deine Augen zusammentrocknen und ätzt dir ein paar Extragänge in die Nase. (…) Ihr Maulschleim ist zäh und fest, sie formen kleinen Kugeln daraus und knallen sie dir hinterrücks vorn Koppe!« Berichtet von den Drachen, die jetzt auf Schäferhundgröße geschrumpft seien, »klar, evolutionärer Vorteil.« Und deshalb: »Im Grund kaum noch Lebensgefahr. Das war damals in Uralistan ‘ne ganz andere Nummer. Ich noch höchstselbst in schlafende Drachen eingestiegen, um ihnen die Herzchen herauszuschneiden.« Lucie denkt kurz an Edith Piaf, die gesungen hat: »Er ist in mein Herz eingetreten«, und ziemlich sicher etwas anderes meinte. Und Klinge verehrt den Phönix, ein Vogel, der sich selbst verbrennt und aus der eigenen Asche neu ersteht. Natürlich wird er verfolgt, und selbst Lucie sieht dann mehrmals eine Frau, die ihr verdächtig vorkommt.

Aber das ist kein Buch über einen dementen alten Mann, der unter Paranoia leidet. Herr Klinge ist eigentlich aus einem anderen Buch in dieses gefallen, ein Eindringling aus dem Bereich der Fantasy, der in das normale Teenie-Leben fällt. Ein skurriler, verdrehter, geheimnisvoller Zaubermeister, ein Weiser der durchgeknallten Art. Der Lucie irgendwie und auf seine ganz spezielle Weise doch beibringt, wie sie ihr Leben wieder auf die Reihe bringt. Nicht, indem er mit ihr redet, ihr Tipps gibt und sie aus seinem reichen Lebensschatz berät. Sondern indem er einfach ganz anders ist, als alles, was man sich vorstellen kann. Und ihr damit zeigt, dass auch sie andere Möglichkeiten hat, als das, was Schule und Mutter und Cliquen ihr vorgeben. Auch das Ende des Buchs schwebt zwischen Phantastik und Realismus, zwischen Traum und Wahrheit – und ist das nicht auf einer bestimmten Ebene dasselbe? Und so kommt es eben dazu (wie der Titel lautet), dass der Wahnsinn ihr die Welt erklärt. Aber eben anders. Völlig anders. Mit nicht nur einem, sondern zwei verblüffenden Schlüssen.

Die Illustrationen der Norwegerin Rán Flygenring sind oft ein Teil des Texts – zum Beispiel sind die Kochrezepte gezeichnet und handgeschrieben. Als Lucie darüber nachdenkt, wie eigentlich die Menschen ihrer Umgebung sind, wird auch dieses »anthropologische Forschungsprojekt« gezeichnet. Bei Mama steht »sucht sich ihre Männer nach folgenden Kriterien aus: Keine eigene Wohnung« (und mit Rot darunter »= muss sofort einziehen« und darüber ein rot durchgekreuztes Bild von einem Haus), »schwierige Lebenssituation« (in Rot »=braucht möglichst viel Mitleid« und darüber ein Kuddelmuddel aus roten Strichen) und »großes Mitteilungsbedürfnis« (in Rot »= völlig unmöglich zu ignorieren« und darüber ein Gesicht mit offenem Mund und einem duftenden Scheißehaufen). So sind die Illustrationen Bestandteil der Erzählung, sie lockern den witzigen Text noch mehr auf, zeigen die von Klinge mit einer Machete in der Luft halbierten Fliegen, machen Lucies Gefühlschaos bildhaft oder intervenieren durch kleine Sprüche wie »Wer die Musik nicht hört, hält die Tanzenden für verrückt«. Auch Flygenrings Zeichnungen tanzen auf dem schmalen Grat zwischen Phantastik und Realismus.

| GEORG PATZER

Titelangaben
Dita Zipfel: Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte
Illustriert von Rán Flygenring
München: Hanser 2019
208 Seiten, 15 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
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