Wenn Lärm zu Mordgelüsten führt

Roman | Patrícia Melo: Der Nachbar

Von Nachbarn fühlt man sich manchmal vielleicht schon einmal gestört. Dass daraus aber ein häusliches Drama mit einer Leiche wird, das stammt dann schon eher aus der bitterbösen Feder von Patrícia Melo. Schwarzer Humor vom Feinsten! Von BARBARA WEGMANN

Roman | Patrícia Melo: Der NachbarEine Alltagsgeschichte, die völlig aus dem Ruder läuft, wuchernder Hass, der zu einem Todesopfer führt, eine Verhandlung vor Gericht und Versöhnung des Verurteilten mit sich selbst. Gleichzeitig ein gesellschaftliches Porträt in einem Land, in dem ohnehin Vieles im Argen liegt, Brasilien. Was für ein Karussell der Emotionen. Ein absolutes Lesevergnügen, bei dem von spontanem Lachen, über Mitgefühl und Verständnis alles dabei ist.

Der Erzähler ist Biologielehrer in Sao Paulo, lebt in einer Eigentumswohnung mit seiner Frau, ein Mehrfamilienhaus. Über ihm wohnt Ygor, mit Y, »deshalb nannte ich ihn Senhor Ypsilon«. Jedes Geräusch aus dessen hellhöriger Wohnung nimmt der Erzähler wahr, fühlt sich massiv gestört, immer mehr, immer stärker, immer öfter. »Ich fühlte mich vergewaltigt. Zerschmettert. Vergiftet. Dieser Mann saugte alle Energie aus mir heraus.«

Hass keimt in ihm auf, den er »pflegte wie einen Rosenstrauch, mit schwarzer Galle anstelle von Dünger … Es war nicht nur das Bedürfnis, meinen Nachbarn zu töten, das mich verzehrte. Ich wollte auch seine Gedärme zerfetzen und ihn auf meiner improvisierten Harpune aufspießen.« Dann verschwindet auch noch die Katze des Erzählers. Rachegefühle und Mordgelüste keimen auf wie wucherndes Unkraut. Die Welt des bisher so unauffälligen Biologielehrers, sie verengt sich, der Alltag wird zum Martyrium, die Katastrophe unabwendbar.

Oh, wie gut versteht man den sympathisch skizzierten Biologielehrer, kann man sich doch nur schwer gegen Lärm schützen und wehren. Augen oder Mund kann man schließen, die Ohren nicht. Zudem wird Lärm zunehmend zu einem gesellschaftlichen Problem, »und ein wahrer Nährboden für die Erzeugung von Gewalt. Es gibt nirgendwo mehr Stille, denn heutzutage ist Stille ein Produkt für die Reichen … die Klanghölle der Welt macht aus uns echte Todesmaschinen.

Patrícia Melo, mit Preisen ausgezeichnet, geboren in Sao Paulo, der 18- Millionen Megastadt Brasiliens, lebt in der Schweiz und hat schon viele Romane geschrieben, Drehbücher und Hörspiele. Eine überaus lesenswerte Stimme Lateinamerikas.

In ihrem sehr frischen, unterhaltsamen Erzählstil, schraubt sie die Ereignisse um den Biologielehrer und Senhor Ypsilon in herrlich verbrecherische Höhen, und man weiß als Leser nicht genau, ob man weinen oder lachen soll, ist gefesselt und liest sich mit unglaublicher Anteilnahme in die Psyche eines Mannes ein, der letztlich komplett ausrastet.

Wenn Lärm zur Folter wird und was dann geschieht. Könnte es jedem von uns genauso ergehen? Knapp 160 temporeiche und wunderbar skurrile Seiten!

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Patrícia Melo: Der Nachbar
Stuttgart: Tropen 2019
159 Seiten, 18.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die wilden 20er – Reloaded

Nächster Artikel

Wärme von innen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Egoismus ist die einzige Konstante

Roman | Annette Mingels: Was alles war »Anfangen, Weitermachen, Lieben, Verlieren, Finden« – so lauten die Kapitelüberschriften, die wie inhaltliche Wegmarken fungieren, in Annette Mingels fünftem Roman Was alles war. Während die promovierte Literaturwissenschaftlerin in ihren Vorgängerwerken Die Liebe der Matrosen (2005) und Tontauben (2011) fragile Zweierbeziehungen unter die Lupe genommen hat, schickt sie nun eine Mittvierzigerin auf schmerzhafte familiäre Spurensuche. Von PETER MOHR

Niemand ist unschuldig

Roman | Don Winslow: Corruption Der deutsche Titel von Don Winslows neuem Roman – Warum die anglisierte Schreibweise, wenn es sich bei ›Corruption‹ doch nicht um den Originaltitel handelt? – sagt es sofort: Es geht um Korruption. Und die hat in diesem in New York spielenden Polizeithriller das ganze System erfasst. Sodass in Winslows 500-Seiter keine einzige der vielen auftretenden Personen – vom Streifenpolizisten bis zum Bürgermeister des »Big Apple« – ohne Schuld ist. Und doch wirft einer den ersten Stein. Denn der nächste könnte ihn selbst zum Ziel haben. Von DIETMAR JACOBSEN

Verstaubte Diplome im gelben Aktenkoffer

Roman | Lena Gorelik: Wer wir sind

Manchmal trügt eine Genrebezeichnung. Hinter Lena Goreliks neuestem Roman Wer wir sind verbirgt sich eine authentische Familiengeschichte, ein außergewöhnliches Erinnerungsbuch. Es ist Selbstvergewisserung, Versöhnung und eine späte Liebeserklärung in einem. Denn der Zauber zweier Sprachen eröffnet neue Dimensionen und Erfahrungsräume. Von INGEBORG JAISER

Nicht ganz bei Trost

Roman | Christian Kracht: Eurotrash

Der Schriftsteller Christian Kracht lässt es wieder krachen und inszeniert – zweieinhalb Jahrzehnte und fünf Romane nach seinem Debüt Faserland – einen grotesken Roadtrip mit einer medikamentensüchtigen, alkoholkranken und dementen Mutter durch eine trostlose Schweiz der Gegenwart. Eurotrash nennt sich sein neuestes Werk, das in diesem Frühjahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Von INGEBORG JAISER

Aufgewühlte Wasser

Roman | Eva Björg Ægisdóttir: Verschwiegen

Elma ist nach Akranes zurückgekehrt. Nach dem Ende einer langjährigen Beziehung sucht die junge Kriminalpolizistin einen Neuanfang in ihrem Leben. Dafür scheint Akranes, wo es ruhiger zugeht als in Reykjavík, genau die richtige Umgebung zu sein. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft erschüttert ein Tötungsverbrechen den Ort. Im Wasser vor dem alten Leuchtturm treibt eine tote Frau. Fieberhaft beginnen Elma und ihre neuen Kollegen Hörður und Sævar zu ermitteln. Und finden sich bald inmitten eines Falls, der weit in die Vergangenheit zurückreicht und in dem die Tote vom Leuchtturm nur die Spitze eines Eisbergs markiert. Von DIETMAR JACOBSEN