Altern ist nichts für Feiglinge

Roman | Stewart O’Nan: Henry persönlich

Fast ein ganzes Jahr – vom Valentinstag bis zu Silvester – umspannt der neue Roman von Stewart O’Nan. Ein weitgehend unspektakuläres Jahr für Henry persönlich, auch wenn der langsame Verfall dem eigenen Körper, der Familie, dem Alltag zusetzt. Wie sich der Mittsiebziger trotzdem gegen das Altern stemmt und seine kleinen, ritualisierten Freuden bewahrt, beruhigt und sorgt für Zuversicht. Von INGEBORG JAISER

Henry persoenlich Die Chronologie einer Familiengeschichte aufzubrechen (oder sie gar rückwärts zu erzählen), hat seinen ganz besonderen Reiz. Auch wenn der amerikanische Autor Stewart O’Nan wohl ursprünglich keine mehrbändige Familien-Saga geplant hat, scheinen ihm die Mitglieder des Maxwell-Clans über die Jahre hinweg doch ans Herz gewachsen zu sein.

Gleichwohl blieb nach Abschied von Chautauqua (2005) und Emily, allein (2012) der bereits verstorbene Ehemann und Vater Henry Maxwell immer ein vager Schatten, der bloße Nachhall eines treusorgenden Familienoberhaupts, ehemaligen Ingenieurs und leidenschaftlichen Hobby-Handwerkers.

Sommerhaus und Golfclub

Nun dreht O’Nan die Zeit zurück und lässt Henry wieder auferstehen. Wir schreiben das Jahr 1998. Das Rentner-Ehepaar Maxwell ist seit fast 50 Jahren verheiratet – glücklich verheiratet, wäre man versucht zu sagen, wenn man nicht wüsste, dass dieses Glück zu großen Teilen auf Kompromissbereitschaft, Rücksichtnahme und Gewohnheit basiert (»Wie viel im Leben war Zufall, und wie viel war Arbeit?«). Mit Stolz und Würde pflegen Henry und Emily die Insignien des saturierten amerikanischen Mittelstands: ein stattliches (wenngleich in die Jahre gekommenes) Eigenheim in Pittsburgh, ein traditionsbehaftetes Sommerhaus am Lake Chautauqua, eine Mitgliedschaft im Golfclub, ein Oldsmobile in der Garage, gelegentliche Restaurantbesuche zu besonderen Anlässen. Längst leben die erwachsenen Kinder in weit entfernten Bundesstaaten und kehren eher pflichtschuldig zu Familienfesten oder Ferientagen in Chautauqua zurück.

Die Tochter Margaret kämpft mit einem manifesten Alkoholproblem, Sohn Kenneth mit dem beruflichen Abstieg. Während Henry der familiären Misere eher mit Hilflosigkeit gegenübersteht, spielt seine Frau Emily die diplomatische Vermittlerin, pragmatisch und zupackend. Und dafür liebt er sie – auch wenn er sich gerne an Jahrzehnte zurückliegende Küsse im Vollmondlicht oder wilde Wasserskifahrten erinnert.

Das Chaos in Schach halten

Doch im Alter von fast 75 Jahren sind die Freuden des Lebens brüchig und spröde geworden. Henry ist übergewichtig, hat erhöhte Cholesterinwerde und Prostataprobleme. Vage plagt ihn die Ahnung, als Erster zu sterben (was auch passieren wird – doch dieses Wissen haben wir Leser perfiderweise der Romanfigur voraus). Dabei sind seine Ängste zuweilen ganz praktischer Natur: Emily »benutzte den Herd und die Mikrowelle tagtäglich, behauptete aber, nicht zu wissen, wie man die Zeit umstellte. Was würde sie anfangen, wenn er tot war?«

Als ehemaliger Luftfahrtingenieur (wie sein Schöpfer Stewart O’Nan) ist Henry auch noch als Rentner ein nicht zu bremsender Tüftler, ständig um Optimierung, Sanierung, Reparaturen bemüht. Eine Fahrt zum Baumarkt gehört zu seinen Lieblingsausflügen. Wenn er sich danach an der Werkbank in ein neues Projekt vertieft, »eingehüllt von dem vertrauten Geruch von Benzin und Teerpappe« ist er schlichtweg glücklich darüber, weiterhin die »Kräfte des Chaos« in Schach halten zu können. Doch wie lange noch? Oft packt ihn die Angst vor unvorhergesehenen Ausgaben und dem Verlust seiner Energie. So durchforstet er regelmäßig den Keller nach Spenden für den Wohltätigkeitsbasar (»Der Plan war, sich der Dinge zu erledigen, damit es die Kinder nicht tun mussten«).

Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss

Letztendlich passiert doch nichts Weltbewegendes – und das über fast 500 Seiten hinweg. Gemächlich schlittern wir mit den Maxwells durchs Jahr, den immer gleichen Ritualen und wiederkehrenden Fixpunkten verbunden: den christlichen Feiertagen und Sommerferien, der Blumenausstellung und dem Kirchenbasar, nebst Valentinstag, Memorial Day und Thanksgiving. Fast fühlt es sich an, als ob man bei alten Bekannten oder entfernten Familienmitgliedern zu Besuch wäre: wohlig, vertraut und ein bisschen gestrig.

Stewart O’Nan zeichnet seine Figuren detailverliebt, verständnisvoll und mit großer Zärtlichkeit. Mit enormem Einfühlungsvermögen schafft er es, die Brüchigkeit des Lebens darzustellen, die Ängste und düsteren Ahnungen im Alter – aber auch das stille Aufbegehren gegen den unaufhörlichen Verfall. Das mag Mut machen. Während Abschied von Chautauqua einer geschickten Familienaufstellung glich, ist Henry persönlich die rührende, unspektakuläre Liebesgeschichte zweier Menschen, die sich durch die Vertrautheit von Jahrzehnten verbunden und getragen fühlen. Dieser ruhige, besonnene, von heiterer Zuversicht getragene Roman scheint wie geschaffen für lange Winterabende.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Stewart O´Nan: Henry persönlich
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Hamburg: Rowohlt 2019
473 Seiten. 24.- Euro

| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Inklusion bedeutet Akzeptanz von Vielfalt

Nächster Artikel

Flashback

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Schuld bleibt immer

Roman | Monika Maron: Zwischenspiel Ihre besten Werke gelingen Monika Maron, die zuletzt mit dem Deutschen Nationalpreis (2009) und dem Lessing-Preis (2011) ausgezeichnet worden ist, wenn sie sich der Fesseln der eigenen Vita und der deutsch-deutschen Politik entledigte und tief in das Innere ihrer Figuren blickte. So wie in ihrem neuen Roman Zwischenspiel, der uns die 72-jährige Autorin auf der Höhe ihrer Erzählkunst präsentiert: raffiniert und äußerst kunstvoll inszeniert, anspielungsreich und doppelbödig, mit philosophischen Sentenzen versehen und dennoch mit großem Elan erzählt. Von PETER MOHR

Heimkehr mit Hindernissen

Roman | Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels

Am 1. August 1976 stürzte die die Wiener Bezirke Leopoldstadt und Donaustadt verbindende Reichsbrücke auf voller Donaubreite ins Wasser. Am Nachmittag desselben Tages verunglückte auf dem Nürburgring der österreichische Formel-1-Pilot Niki Lauda mit seinem Ferrari schwer. Zufall oder Koinzidenz der Ereignisse? Wenn Heinrich Steinfest solche Ereignisse in das Leben seiner Romanfiguren hereinholt, ahnen die Leser inzwischen bereits: Es wird wieder einfallsreich. Und alles, auch das Unglaublichste, ist möglich. Denn »pure Zufälle sind der Aberglaube der Aufklärung.« Von DIETMAR JACOBSEN

Eingemauert

Roman | Arnaldur Indriðason: Wand des Schweigens

Immer noch nicht hat der pensionierte Kommissar Konráð das Rätsel um den Tod seines Vaters gelöst. Da bringt ihn ein schockierender Leichenfund in einem Reykjavíker Wohnhaus auf die nächste Spur. Handelt es sich bei dem menschlichen Skelett, das man hinter einer Kellerwand entdeckt hat, etwa um den damals blitzschnell vom Tatort verschwundenen Mörder? Konráð beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, denn seine Ex-Kollegen trauen ihm nicht mehr. Und schnell muss er erkennen, dass ein Jahrzehnte alter Fall auch in der Gegenwart noch für reichlich Unruhe sorgen kann. Von DIETMAR JACOBSEN

Hübsche Frauen und der beste Jazz

Roman | Ulla Lenze: Der Empfänger
»Gutes Essen, hübsche Frauen und der beste Jazz der Welt.« So beschreibt Josef Klein, der Protagonist in Ulla Lenzes Roman ›Der Empfänger‹ seine Lebenswelt jenseits des Atlantiks. Als junger Mann von Anfang zwanzig war er 1925 aus Düsseldorf nach New York aufgebrochen, wo er seinen Lebensunterhalt als Drucker verdiente. Von PETER MOHR