Alles verändert

Kurzprosa | Jostein Gaarder: Genau richtig

»Vorhin war ich bei Marianne, und mir ist klar, dass von nun an alles verändert ist.« Mit diesem Satz des Lehrers Albert eröffnet der norwegische Schriftsteller Jostein Gaarder seine neue kurze Erzählung Genau richtig. Albert bekommt von seiner Ärztin Marianne, die zufällig auch seine Jugendliebe war, die Nachricht, dass er unheilbar an ALS erkrankt ist und sein Nervensystem peu à peu versagen wird. Vielleicht drei, wahrscheinlich aber nur etwas mehr als ein Jahr bleibt ihm, so die düstere Prognose der Medizinerin. Von PETER MOHR

Genau richtigGaarders 1993 in deutscher Übersetzung erschienene Roman Sofies Welt (in mehr als 60 Sprachen übertragen) machte den heute 67-jährigen Autor auch hierzulande schlagartig berühmt. Seine erzählerische Einführung in die Philosophiegeschichte bringt es zusammen mit Nachfolgewerken wie Das Kartengeheimnis (1995), Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort (1996) und Die Frau mit dem roten Tuch (2010) weltweit auf rund 60 Millionen verkaufte Exemplare.

Gaarder schickt nun seinen Protagonisten, ein bis zur Diagnose umtriebiger Mitt-Fünfziger, an einen symbolbeladenen Rückzugsort. »Märchenhaus« nennt er eine abgelegene Waldhütte an einem Seeufer. Mit seiner Frau Eirin, eine international beschäftigte Meeresbiologin, hatte er die Hütte, in die das Paar als junge Studenten einst eingebrochen war, gekauft.

Gaarder lässt seine Hauptfigur rückblickend ein Leben zu zweit rekonstruieren, vom Kennenlernen in der Uni in den frühen 1970er Jahren, von der ersten Spritzfahrt mit einem von Eirins Vater geliehenen Volvo 144 und von späteren gemeinsamen Glücksgefühlen im Ruderboot in der Einsamkeit des Sees, als Eirin einmal – völlig losgelöst – rief: »Das ist die Ewigkeit, Albert!«

Alberts innigster Wunsch ist es, alles selbst bestimmen zu dürfen. Er lehnt die Geräte-Medizin kategorisch ab. Er fantasiert sich in Tag- und Nachtträumen seinen Selbstmord auf dem See herbei.

So hat er sich auch zurückgezogen in die Hütte – mit dem Ziel, sein Leben zu beenden, um sich nicht in die Abhängigkeit anderer Menschen begeben zu müssen und für seine Familie keine Last werden zu wollen. Eirin befindet sich gleichzeitig auf einem Kongress in Australien.

»Ich glaube, ich ahne in dem ganzen Chaos einen roten Faden, weiß aber nicht, wohin der mich führen wird.« Jostein Gaarder schafft eine Mischung aus Traurigkeit und Versöhnlichkeit, ein Abschiedsbrevier, das permanent zwischen Hoffen und Bangen changiert.

Seine Wahrnehmung vom Leben wird erst intensiver, bewusster und sinnlicher, als durch die niederschmetternde Diagnose die Endlichkeit der eigenen Existenz auch naturwissenschaftlich-faktisch in Stein gemeißelt ist.

Jostein Gaarders Erzählband Genau richtig ist eine anregend-belebende Wellness-Übung für den Geist. Ein Buch, das in unserer schnelllebigen Zeit zur inneren Einkehr anregt – zur völligen Entschleunigung. Gaarder schafft es, Schweres erzählend leicht zu machen – ein literarischer Trostspender ohne jeden missionarischen Eifer. Und mit dem letzten Satz entlässt er auch den Leser nach vielen emotionalen Loopings während der Lektüre halbwegs versöhnt aus dem Buch: »Ich denke, dass die Zeit, die mir bleibt, weder zu lang noch zu kurz ist. Sie ist vielleicht genau richtig.«

| PETER MOHR

Titelangaben
Jostein Gaarder: Genau richtig. Die kurze Geschichte einer langen Nacht
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
München: Carl Hanser 2019
125 Seiten, 16 Euro
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Das werde sich wie von selbst erledigen, sagte Tilman, kein Grund sich aufzuregen, eine monströse Blase sei im Begriff zu platzen, im günstigsten Fall halbwegs geräuschlos zu platzen, seht hin, und mir nichts, dir nichts sei die Luft heraus, so etwas gehe schnell heutzutage.

Meine Güte, sagte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

›Follower‹ nennen sie sich und ›Influencer‹, spottete Annika, und ob sie ›Follower‹ hätten, fragte sie Tilman und Farb, nein, woher denn, sie wisse das nicht, außerdem seien diese Zeiten längst wieder vorbei, fügte sie hinzu, der Wind habe gedreht, nur daß die es gar nicht gemerkt hätten, sie hielten fest an ihrer Spaßgesellschaft, ich will immer auf dich warten.

Farb lachte. Die Zeiten seien halt schnellebig, sagte er, die Trends würden gewechselt wie die Socken, sagte er, jeder Weg hat mal ein Ende, eben noch waren die Trends medial aufgeblasen und seien doch aus der Welt gefallen, ehe man sich’s versah, ein Wimpernschlag, seien rückstandsfrei zurück geblieben, verloren, als ob es sie nie gegeben hätte, und täglich werde eine neue Sau durchs Dorf getrieben.

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Ob der Planet lebendig sei, sagte Farb, das wüßte er gern.

Eine spannende Frage, sagte Anne, hielt ihre Tasse in der Hand und blickte nachdenklich auf den zierlichen lindgrünen Drachen, sie war fasziniert, allein was ihr mißfiel, war die gegabelte obere Verankerung des Henkels, es gab gefälliger geformte Tassen, sie erinnerte sich an Mon Ami von Roerstrand, doch was wäre ohne Fehl und Tadel, sie schenkte Tee ein, sie warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Selbstverständlich, führte sie fort, auf ihm gediehen Pflanzen, er biete dem Getier eine Heimstatt.

Das sei nicht seine Frage gewesen, erinnerte Farb, sondern er habe wissen wollen, ob der Planet lebendig sei, ja, gewiß, er nickte bekräftigend, dieser Planet.

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Wurde Zeit, sagten sie eilig, wurde höchste Zeit, und ließen dennoch keine Freude erkennen, ich hätte von ihnen durchaus ein Danke erwartet, nicht wahr, ich kann euch jederzeit wieder entfernen, mahnte Farb, so lästig wie ihr euch aufführt, euer unablässiges Geschwätz ist nicht lange zu ertragen, und rufe Heimito von Doderers Roman No. 7 in Erinnerung, in dem er Fini und Feverl, die ihm den letzten Nerv raubten, ich erwähnte es anderenorts, kurzerhand expedierte, es geht, also bitte.

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Wo stammt das Leben her, von irgendwoher muß es ja kommen, oder ist es bloß einfach da, sonst nichts, unvorstellbar.

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