/

Fake News im Frankreich der Revolution

Indiebookday | Wu Ming: Die Armee der Schlafwandler

Wu Ming – ein Autorenkollektiv aus Bologna – schreibt seit einigen Jahren gegen die offizielle historische Lehrmeinung an: Bereits 1999 erzählte das groß angelegte Romanepos Q (2016) von der Zeit der Reformation aus der Perspektive der Underdogs – wie zu lesen ist, stellte die autoritäre Staatsmacht auch schon im frühen 16. Jahrhundert unliebsame Gegner mit einem Netz aus Spionageabwehr, V-Männern und Fake-News erfolgreich kalt. Das neue 670-Seiten-Werk Die Armee der Schlafwandler nimmt sich die Zeit der Französischen Revolution vor. Zum Indiebookday am 21.03.2020 stellt HUBERT HOLZMANN die aktuelle Neuerscheinung des Berliner Verlags Assoziation A vor.

Wu Ming: Die Armee der SchlafwandlerDas 1994 aus der Bologneser Subkultur entstandene Kollektiv bricht unter anderem mit der Tradition, die Chronik der Grande Nation nachzuerzählen. Die Armee der Schlafwandler rechnet vielmehr mit einer Männerwelt ab, deren Versuche, die Gesellschaft neu zu formen, im Taktieren zwischen Tagesgeschäft und Machtintrigen scheitern. Bekanntlich reißt nach einigen Jahren des großen Tohuwabohus in der Nationalversammlung der Alleinherrscher Napoleon die Herrschaft an sich. Er lässt die kommunistischen Ideen der Jakobiner zugunsten der alten Oberschicht und der Emporkömmlinge niedergeschlagen.

Der Roman, der die Spätzeit der Französischen Revolution 1793-1795 umfasst, beginnt mit einem kurzen Intro – imaginiert wird ein letztes heißes Tänzchen auf dem Vulkan, das uns Zuschauern eine merkwürdige »Nasenparade« »des Pariser Pöbels« liefert, wie ihn einer der im Untergrund abgetauchten französischen Adeligen  beschreibt: Wie in einem Possenstück hüpfen »vom Saufen aufgetriebene Knollen«, »fleischige Zinken«, »platt und schief geprügelt im Kampf ums Vaterland« »mit Malen und Warzen bedeckt« vorbei.

Große Nasen, kleine Nasen – alle aufs Schafott!

Und alles nur, weil die Hinrichtung des letzten Bourbonen, Louis Capet – besser bekannt als Louis XVI. – kurz bevorsteht. Das Volk wartet auf die Sensation. Der König wird in einem Konvoi aus Sicherheitskräften über die fäkalienbeschmutzten Straßen der Stadt Paris zu seiner Hinrichtungsstätte gebracht. Der König steht plötzlich mit dem gemeinen Volk auf einer Stufe. Oben allein steht auf dem Podium der Henker Samsun. Louis XVI. ist entmachtet. »Da ist er. Capet. Ein kleines fettes Männchen auf dünnen Beinen und mit großer Nase. Nicht kleiner als unsere, der trägt sie nur anders, klar, was ist sie immer im Weg, aber er schiebt sie vor sich her wie den Bug eines Schiffes.

Der Henker ist nicht zimperlich: »Er nimmt ihm die Krawatte weg und schneidet ihm mit einer Schere das Zöpfchen ab. Ein bisschen Schneider, ein bisschen Friseur, so richtet unser Samsun ihn für den Tanz mit Madame Guillotine her.“ Was folgt, ist ein grandioses Spektakulum für das Volk, mit viel Konfetti und Streit und Gejohle um die Trophäen der Hinrichtung. – Großartig erzählt!

Wie das Leben so spielt!

Dann startet der Roman, der in seinen vier spannungsreich erzählten Teilen Qualitäten eines wunderbaren Schmökers entwickelt. Die Personen der Handlung sind breit aufgestellt: Es gibt den Schauspieler Léo, der als Scaramouche wilde, anarchische Abenteuer erlebt und in den Straßen Paris Berühmtheit erlangt. Marie Nozière kämpft in Versammlungen für die Rechte der Frauen. Bastien, ein Polizist, versucht die oft sehr unmenschlichen Anordnungen menschlich umzusetzen. Ein Mann in Schwarz tritt auf und versucht zu retten, was von der Monarchie noch zu retten ist. Der Arzt d’Amblanc forscht über das kuriose Phänomen des Magnetismus und macht erstaunliche Entdeckungen in den Tiefen der französischen Seele.

Eingeschoben in die Handlung werden historische Szenen aus dem Nationalkonvent, es werden kurze Zitate aus dem Journal der Republik eingeblendet, Dekrete und Erlasse beleuchten die Umstände. Bereichernd für diese bunte Collage aus Zeitdokumenten sind jedoch vor allem die burlesken Momente, wenn etwa ein Liedchen der Revolution erklingt: »Der König hat nur einen Kopf/ aber wenn’s ein paar mehr sein sollen/ lass sie alle rollen!«

Im Labyrinth der Geschichte verborgen

Die Ereignisse in Paris um 1793 sind turbulent: Die Revolution schreitet voran – und frisst ihre Kinder, geheime Bünde betreiben ein intrigantes Spiel mit den Mächtigen der Revolution und betreiben vor allem eines: Konterrevolution. Im Hospiz Bicêtre, das während der Revolution eine der gefürchtetsten Irrenanstalten ist und ganz einer Foucaultschen Züchtigungsanstalt aus Überwachen und Strafen entspricht, spielen die Narren die Revolution nach, endete die beim ersten Mal tragisch, wird es in der Anstalt zur Farce.

Die Narren gehorchen einem Herrn, der die Kräfte des Magnetismus als kontrollierende Kraft benutzt, um die neuen Marats, Dantons, Robespierres für seine Absichten zu lenken. D’Amblanc weiß um diese Kraft des Magnetismus und macht sich auf die Suche nach Zeugen dieser neuen Psychotechnik. In der Dordogne wird er überraschende Entdeckungen machen. Und das Leben in der Provinz ist ziemlich elend – nicht nur auf den Straßen von Paris erwacht da der Volkszorn und es gilt die Macht des Stärkeren: »Alle heulen. Männer, Frauen, Kinder, Alte. Sie heulen, dass die Seine trotz der Trockenheit Hochwasser hat. Man besäuft sich auf der Straße, man reißt sich die Haare aus, und ein paar laufen mit einer Knarre in der Hand herum, als wären sie auf der Jagd.«

Diese anarchischen Zentrifugalkräfte, die jeden Ordnungsversuch durchbrechen und auf den Kopf stellen, können selbst von den Anführern der Revolution nicht gebändigt werden. Jeder versucht seine Macht zu sichern. Kostet es, was es wolle. Da rollen schon mal Köpfe. Manchmal die falschen. Denn sie haben »sich gegenseitig aufs Schafott geschickt und wer zuerst drankam, hatte verloren.« Eine Geheimorganisation will das ändern, sie ruft die Armee der Schlafwandler – eine Metapher für die braven Bürger? – zusammen. Wie eh und je trifft sich diese Hautevolee in abgelegenen Schlössern. Dort wird der Plan geschmiedet. Am Jahrestag der Hinrichtung Louis XVI. soll die Armee losmarschieren, »grausam« und wirkliches »Chaos verbreiten«. Das Ziel?

Wu Mings Roman Die Armee der Schlafwandler zeichnet ein faszinierendes Bild des revolutionären Frankreichs und ist eine fesselnde Lektüre. Das hat das Buch nicht zuletzt der großartigen Übersetzung aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnolds zu verdanken. Er seziert die Gesellschaft der Republik scharfsinnig und unterstreicht den Niedergang der alten elitären Führungselite: So gestaltet er das adelige Treiben vor dem Palais Thellusson zum Possenspiel: D’Amblanc »studierte die aus den Kutschen steigende Fauna, die sich eingehüllt in elegante Gehröcke, vor der beißenden, herbstlichen Kälte zu schützen suchte; Händler, Börsenspekulanten und – darauf hätte er gewettet – Adelige, die wieder integriert und denen ihre von der Republik konfiszierten Güter zurückgegeben worden waren.« Eine Parallele zum »Gezücht« der Hohenzollern sei nebenbei gezogen!

Doch noch sind im Roman nicht alle Dinge verhandelt, ist der letzte Kopf nicht gerollt. Und die Revolution hält es mit den guten Schauspielern: »Der Letzte macht die Tür zu.« Prädikat: Lohnenswert.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben:
Wu Ming: Die Armee der Schlafwandler
Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold
Berlin, Hamburg: Assoziation A 2020
670 Seiten. 28.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Wu Ming

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kommt alles Gute wirklich von oben?

Nächster Artikel

Die Golden Twenties werden ihrem Ruf gerecht

Weitere Artikel der Kategorie »Indiebooks und Kleinstverlage«

Sehnsucht nach Kraut

Comic | Sohyun Jung: Vergiss nicht das Salz auszuwaschen Unabhängigkeit und Sehnsucht, saures Kraut und aromatische Heimat sind die Zutaten zu Sohyun Jungs preisgekrönter Graphic Novel. Die eindringliche, dichte Bildwelt des Bandes lädt zur Empathie ein und weckt Erinnerungen an die ganz persönliche kulinarische Sozialisation. SUSAN GAMPER erkennt: Nicht ohne mein Kimchi!

Wild, weiblich, wagemutig

Menschen | Andrea Barnet: Am Puls der Zeit Am Puls der Zeit branden, aus den engen Korsetts schlüpfen, die alten Moralvorstellungen über Bord werfen und sich komplett neu erfinden – das war in New York zu Anfang des letzten Jahrhunderts vor allem in Greenwich Village und Harlem möglich. Andrea Barnet zeichnet die Porträts von rund einem Dutzend bemerkenswert moderner Wegbereiterinnen nach. Von INGEBORG JAISER

Heil Boskop!

Gesellschaft | Front Deutscher Äpfel: Das Buch zur Bewegung Ein neues Buch rekapituliert die Geschichte der »Front deutscher Äpfel«, einer satirischen Organisation gegen Rechts. Gerade im momentanen Klima lohnt sich ein näherer Blick, findet JAN FISCHER.

Raus aus dem Eingesperrtsein, nur raus

Kulturbuch | Jochen Schimmang: Grenzen, Ränder, Niemandsländer Schwierig, über Literatur zu schreiben. Oder vielleicht eher: Mir fällt es schwer. Die Maßstäbe sind im Übergang, Trivialliteratur ist seit Urzeiten abgeschafft. Wo man nur hinsieht, wird gecrossovert, der etablierte Betrieb befasst sich mit eigenen Sorgen. Die jüngste deutsche Nobelpreisträgerin äußert sich zur Ukraine, es müllert, dass noch die letzten Grenzpfähle im Sumpf versickern. Von WOLF SENFF

Ah! jetzt! ja! Ah! jetzt! ja!

Sachbuch | Alastair Brotchie: Alfred Jarry. Ein pataphysisches Leben Pataphysik ist ein Thema mit doppeltem Boden, mindestens. »Die Schmerzen in Ihrem linken Schultergelenk«, diagnostiziert die Ärztin, »sind altersbedingt.« – »Unmöglich«, widerspricht der Patient, »die rechte Schulter ist doch ebenso alt und sie tut nicht weh.« Hm. Oder anders: Weshalb bleibt ausgerechnet die Teekanne, die seit Jahren einen Sprung hat, länger heil als diejenige, die die ganze Zeit lang immer heil war? Diese Art Fragen treiben uns um. Von WOLF SENFF