Geschichten und Schweigen

Kinderbuch | Simon van der Geest: Das Abrakadabra der Fische

Für die zwölfjährige Vonkie ist es der GAU. Weil ihre Eltern sich streiten und Zeit miteinander brauchen, muss sie zu ihrem Opa aufs Land. Für ihre gesamte Familie aber ist es das Beste, was passieren kann. Denn Vonkie lässt das Schweigen nicht auf sich beruhen. GEORG PATZER ist sehr angetan.

Abrakadabra FischeAlle Brüder hatten Spitznamen: Tor, Schraube, Panzer, Eisen und Beule – nur die Zwillinge nicht, die beiden Jüngsten. Tor spielte sich immer als Chef auf, also war er der Direktor – später nur noch Tor. Schraube hat immer an etwas gebastelt und geschraubt und den Trecker, die Mähmaschine und den Heuwagen repariert. Panzer war breit und stark. Ein Grobian, der alle umwalzte, wenn er wollte. Gisbert hatte immer eine Beule, fiel von den Bäumen oder vom Deich, rannte gegen eine Mauer. Und Opa Leo hieß Eisen: »Weil sie mich so stur fanden. So stur wie einen krummen Nagel. Versuch doch mal einen krummen Nagel gerade zu schlagen.«

Stur wie Eisen ist er immer noch. Dummerweise zeigt sich das vor allem darin, dass er nicht redet. Natürlich redet er, erzählt seiner zwölfjährigen Enkelin Vonkie, die für eine Woche zu ihm zieht, gern Geschichten von früher: Von den Streichen, die er vor allem mit Beule ausgeheckt und ausgeführt hat – die drei älteren waren mehr für sich („Sie nannten uns immer Küken.“) und mussten auch viel auf dem Hof arbeiten. Die Zwillinge waren zu jung, und so waren Beule und Eisen immer zusammen, teilten sich sogar lange Zeit ein Zimmer. Es waren oft grobe Streiche: Einmal sägten sie den Donnerbalken an, auf den sich dann Panzer setzte und natürlich prompt in die Scheiße flog (die Jüngeren mögen nachschlagen, was ein Donnerbalken ist bzw. war: In der Geschichte heißt er Scheißbalken). Einmal jagten sie Hühner, wer die meisten eingefangen hatte, hatte gewonnen – dummerweise steckten sie sie dann in Eimer, in denen vorher Kalk war, und vergaßen die Hühner dann, die alle starben. Es gab danach wochenlang Hühnersuppe. Einmal schlossen sie Blutsbrüderschaft. Aber dann kam so nach und nach doch Konkurrenz auf. Opa wurde eifersüchtig auf Beule, weil der immer der Star war, die Kiebitzeier im Frühling immer als erster fand, immer einmal aus dem Eis rettete und fast immer die unvermeidlichen Strafen auf sich nahm.

Und das ist in den insgesamt zehn Geschichten vom Schlittschuhlaufen, In-den-Deich-Fallen, den aggressiven Schwänen, immer der Punkt, an dem der Opa anfängt zu schweigen. Natürlich fängt jetzt Vonkie an, sich dafür zu interessieren und nachzubohren. Was verschweigt er? Und warum? »Du mit deinen Fragen«, seufzt der Großvater dann. Vor allem, wenn es um die eine Geschichte geht, die er nicht erzählt: Wieso Opa Leo sich mit seinem Bruder derart zerstritten hat, dass er seit fünfzig Jahren keinen Kontakt mehr mit ihm hat und auch nicht haben will, seine Briefe nicht einmal mehr öffnet. Schwierig ist es für Vonkie, diese Geschichte aus ihm herauszulocken. Und die andere, was es mit der halbverfallenen Mühle auf sich hat, die sie von ihrem Dachfenster aus sieht. Spuken soll es dort, der Großvater macht einen großen Bogen um sie. Dennoch sieht Vonkie, dass er nachts zu ihr geht. Aber er schweigt.

Das große Schweigen

Das Schweigen ist das Thema des Jugendbuchs, das der in den Niederlanden berühmte Simon van der Geest geschrieben hat. Auch in Vonkies Familie. Denn das Buch und ihr Aufenthalt bei ihrem Opa beginnen damit, dass sich ihre Eltern streiten: »Ich habe Mama noch nie so böse gesehen wie heute Morgen. Aus der Küche kam ein gewaltiges Klirren, also rannte ich hinunter. Da stand sie, zitternd und blass, mit der großen Bratpfanne in den Händen.« Wütend hat sie das große Aquarium zertrümmert: »Zu ihren Füßen eine enorme Wasserpfütze mit Scherben, Wasserpflanzen, Steinen und bunten, zappelnden Fischen. Papas Fischen.« Aber der schreit nicht, tobt nicht. »Ich habe meinen Vater noch nie schreien gehört. Ich glaube auch nicht, dass er das überhaupt kann, er kann noch nicht mal böse werden. Ich sah meinen Vater nach Luft schnappen und dann … machte er den Mund wieder zu.« Und fing an, die Fische aufzusammeln. »›Und ich?‹, sagte Mama mit erstickter Stimme. Aber Papa antwortete nicht und fuhr mit der Rettung seiner Fische fort. Mama knallte die Pfanne auf die Anrichte, stob an mir vorbei aus der Küche und stampfte die Treppe hinauf.« Und brachte Vonkie für eine Woche zu Opa Leo. »Papa und Mama wollen Zeit miteinander haben, um die Dinge auf die Reihe zu bringen. Und dabei können sie mich nicht brauchen. So ist das.« Als sie sie abliefert, spricht sie leise mit ihrem Vater: »Ab und zu zerbeißt sie die Wörter mit den Zähnen und kneift sie mit den Fäusten. Als sie merken, dass ich sie beobachte, sagen sie nichts mehr.«

Und so ist Vonkie auf dem Bauernhof am Deich, und erfährt auch hier, was Schweigen bedeutet und was es anrichten kann. Manchmal telefoniert sie mit ihren Eltern, aber was die bereden und worum es bei ihrem Streit geht, erfährt sie nicht: Die Eltern schließen sie aus. Und auf dem Land ist die Geschichte der plötzlichen Feindschaft zwischen Leo und Gisbert nicht die einzige, die voller Schweigen ist. Da ist auch Leos Mutter, die so oft geistesabwesend ist, mit ihren Kindern nicht redet und sie auch nicht liebevoll versorgt. Und irgendwann findet Vonkie in einer Schachtel auf dem Kleiderschrank eine kaputte Puppe und bekommt mit, dass es noch eine Tochter gegeben hat, die ertrunken ist, Mathilde. Nie hat jemand ihr davon erzählt. Und auch Sven, der Sohn von Beules Bruder Dirk, ist ahnungslos: »Das hast du also auch nicht gewusst? In dieser Familie erzählt niemand dem anderen etwas…«, sagt Vonkie. Aber ihr Name lebte weiter: Vonkies Mutter, Opas Tochter, heißt Tilda und Beules Tochter, die sie später kennenlernt, Mathilda.

Das Schwere leicht machen

Das Erstaunlichste an diesem Roman ist, dass all dieses Schwere, die befürchtete Trennung der Eltern, die Familiengeheimnisse, die den Großvater umgeben, die düsteren Begebenheiten in und an der Mühle, der Brand der Mühle und das spurlose Verschwinden des Müllers und seiner Tochter, in die Opa Leo verliebt war, dass all das ganz harmonisch in eine fast leichte Geschichte eingebettet ist. In der es auch sehr humorvoll zugeht, wenn der Opa von all den Streichen und dem allerersten Kuss erzählt, wenn Sven ständig sein Handy fallen lässt und es einmal von einem Schwan angegriffen und gebissen wird, weil Sven Raubvogelschreie abspielt. Oder wenn Sven und Vonkie sich in die Familiengeschichte einmischen und vor lauter Eifer ihre E-Mails falsch formulieren und die Sache fast noch schlimmer machen.

So wird aus einem Buch, das mit einem dicken Zeigefinger winken könnte, in manchen Teilen eine fast normale Feriengeschichte mit all den normalen Abenteuern auf dem Land und den skurrilen, die die Kinder damals erlebt haben. Der Autor erzählt, statt zu erklären, vieles deutet er nur an, anderes lässt er offen: Ob sich das Verhältnis zwischen Vonkies Eltern nachhaltig verbessert zum Beispiel.

Van der Geest spannt ein weites, feines Netz aus Andeutungen und Verkettungen, Enttäuschungen und Nahtstellen in der Familie. Und erzählt, wie es sich auflöst oder wenigstens verändert, weil Vonkie an einer Stelle anfängt zu zupfen. Und wenn man ein Netz an einer Stelle berührt, bewegt sich das ganze Netz.

| GEORG PATZER

Titelangaben
Simon van der Geest: Das Abrakadabra der Fische
(Spijkerzwijgen, 2016) übersetzt von Mirjam Pressler
Stuttgart: Verlag Thienemann 2019
320 Seiten, 15 Euro
Kinderbuch ab 10 Jahren
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