Vergeltung aus dem Jenseits

Roman | Cai Jun: Rachegeist

In China ist der 1978 in Shanghai geborene Cai Jun, dessen mehr als 30 Romane und Thriller sich bisher über 13 Millionen Mal verkauft haben, schon längst ein Star. Im Rest der Welt ist man gerade dabei, ihn zu entdecken. Dass jemand auf die Idee gekommen ist, ihn als den »chinesischen Stephen King« zu preisen, könnte dabei durchaus hilfreich sein. Auf jeden Fall bietet der jetzt auf Deutsch erschienene Roman Rachegeist eine wilde Mixtur aus Thriller und Mystery, atemlos erzählt und mit so vielen Toten gespickt, dass man irgendwann aufhört, sie zu zählen. Von DIETMAR JACOBSEN

Rachegeist Shen Ming ist Lehrer am renommierten Nanming-Gymnasium, das er bereits als Schüler besuchte. Der 25-Jährige ist beliebt bei den ihm Anvertrauten, wird von den Mädchen bewundert und hinter seinem Rücken sagt man ihm sogar eine Affäre mit einer seiner Schülerinnen nach. Als die eines Tages vergiftet aufgefunden wird, fällt der Verdacht deshalb sofort auf ihn, von dem man zudem weiß, dass er nicht nur chinesische Literatur, sondern im Nebenfach auch Toxikologie (!) studiert hat.

Schnell wieder auf freiem Fuß, weil man ihm die Tat nicht nachweisen kann, scheinen die berufliche Karriere von Shen Ming sowie sein kurz vor der Heirat stehendes Verhältnis zur Tochter eines einflussreichen Parteikaders ein für allemal erledigt. Also geht er, der nichts mehr zu verlieren hat, hin und tötet den Dekan seiner Schule. Ihn hält er für den wahren Schuldigen.

Man schreibt den 19. Juni 1995 und am Abend desselben Tages wird der, der eben noch mordete, selbst Opfer eines tödlichen Messerangriffs im Keller eines verrotteten Fabrikgebäudes in der Nähe seines Gymnasiums, einem unheimlichen Ort, den man an der Schule als »das Quartier der Teuflin« bezeichnet.

Zurück über den Fluss des Todes

Rachegeist ist der erste ins Deutsche übertragene Roman des chinesischen Bestsellerautors Cai Jun. Mit der Geschichte eines fälschlich des Mordes verdächtigten Gymnasiallehrers, der, eben wegen Mangels an Beweisen wieder aus dem Polizeigewahrsam entlassen, denjenigen tötet, den er für den wahren Täter hält, um kurz darauf selbst Opfer eines hinterhältigen Angriffs zu werden, setzt er eine Spirale von Gewalt in Bewegung, die kaum jemanden verschont, der auf die eine oder andere Weise in die Ereignisse aus dem Jahr 1995 verwickelt war.

Und so sterben in den folgenden zwei Jahrzehnten nicht nur weitere Lehrer und Schüler des Nanming-Gymnasiums, sondern auch Shen Mings einstige Verlobte Gu Qiusha und deren Vater. Selbst vor Huang Hai, der als eifriger Polizeibeamter die Morde an der Schülerin Liu Man und dem von ihr verehrten Lehrer untersuchte, ohne dabei zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen, macht der Todesengel nicht Halt.

Aber kann es wirklich sein, dass es sich um den aus dem Reich der Toten zurückgekehrten Geist von Shen Ming handelt, der sich den Körper eines ein halbes Jahr nach der Ermordung des Lehrers geborenen Jungen ausgesucht hat, um einen vernichtenden Rachefeldzug zu starten? Si Wang jedenfalls, der genial veranlagte, auf seine Umwelt wie ein Erwachsener wirkende Knabe, ist davon überzeugt, der wiedergeborene Shen Ming zu sein, dessen Erinnerungen zu besitzen, seine Gedanken zu teilen und dafür sorgen zu müssen, dass in der Vergangenheit begangenes Unrecht endlich bestraft wird.

Ein Geist sucht seinen Mörder

Geschickt verbindet Cai Jun in seinem umfangreichen Roman kriminalistische und fantastische Motive. Zur besseren Orientierung des Lesers ist dem Buch eine Liste mit den wichtigsten handelnden Personen vorangestellt, von denen freilich am Ende des Romans nur die wenigsten noch am Leben sind. Sie ist auch nützlich, um dem in alle Richtungen ausufernden Plot mit seinen zahlreichen Nebenschauplätzen sowie Vor- und Rückblenden immer folgen zu können. Im Gegensatz zu der mäandernden Handlung, die zu Konzentration beim Lesen zwingt, steht die (manchmal etwas zu) schlicht-reportierende Sprache, die Eva Schestag für ihre Übertragung aus dem Chinesischen gewählt hat.

Dass am Ende das die Geschehnisse in Gang setzende Verbrechen an der Schülerin Liu Man noch eine überraschende Aufklärung erfährt, zeigt, dass Cai Jun – bei aller überbordenden Phantasie – die Realität nie aus den Augen verliert. Im Gegenteil: Rachegeist nimmt nicht zuletzt auch das moderne China mit all seinen Facetten in den Fokus und erzählt ganz nebenbei auch noch von Korruption und Machtmissbrauch, Unterordnungsritualen und Ausbruchsversuchen, Tigermüttern und gewaltbereiten Vätern, einer sich den Märkten öffnenden, global orientierten Wirtschaft und den ihr eigentlich entgegenstehenden ideologisch-doktrinären Schranken.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Cai Jun: Rachegeist
Aus dem Chinesischen von Eva Schestag
München: Piper Verlag 2020
510 Seiten, 16 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Perlenkette auf dem Grund des Meers

Nächster Artikel

Macht korrumpiert

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Agenda 2016

Roman | Joachim Zelter: Schule der Arbeitslosen

Die Schule der Arbeitslosen ist eine bitterböse Satire mit einem großen Maß an Aktualität. Findet FRANK SCHORNECK

Eingemauert

Roman | Arnaldur Indriðason: Wand des Schweigens

Immer noch nicht hat der pensionierte Kommissar Konráð das Rätsel um den Tod seines Vaters gelöst. Da bringt ihn ein schockierender Leichenfund in einem Reykjavíker Wohnhaus auf die nächste Spur. Handelt es sich bei dem menschlichen Skelett, das man hinter einer Kellerwand entdeckt hat, etwa um den damals blitzschnell vom Tatort verschwundenen Mörder? Konráð beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, denn seine Ex-Kollegen trauen ihm nicht mehr. Und schnell muss er erkennen, dass ein Jahrzehnte alter Fall auch in der Gegenwart noch für reichlich Unruhe sorgen kann. Von DIETMAR JACOBSEN

Apokalypse in Texas

Roman | James Lee Burke: Glut und Asche Auf Anhieb hat es James Lee Burke 2015 mit Regengötter auf den ersten Platz/international des Deutschen Krimi Preises geschafft. Die Geschichte um den texanischen Sheriff Hackberry Holland und seinen psychopathischen Widersacher, Preacher Jack Collins, überzeugte die Jury durch ihre Archaik und eine Sprachgewalt, die noch dem kleinsten Ereignis eine schicksalhafte Bedeutung zu geben verstand. Nun, in Glut und Asche, ist Hackberry Holland zurück und hat sich im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko gleich mit einer ganzen Reihe von durchgeknallten Gewalttätern auseinanderzusetzen. Von DIETMAR JACOBSEN

Die Griechen schreiben schon wieder Geschichte

Roman | Petros Markaris: Verschwörung

Kostas Charitos im Homeoffice? Wäre schön, aber das Verbrechen pausiert nicht während der Pandemie. Im Gegenteil. Gerade der Lockdown scheint sich auf dunkle Existenzen anziehend auszuwirken. Und so ist Athens Stellvertretender Kriminaldirektor auch schon bald wieder mit der Aufklärung heimtückischer Morde beschäftigt. Die diesmal – wie könnte es anders sein – einen bekannten Epidemiologen und den Fahrer eines Impfstofftransporters ins Jenseits befördern. Auch im 14. Fall für seinen bodenständigen Helden bleibt Petros Markaris dem Zeitgeschehen auf der Spur und verhehlt nicht seine Sympathie für diejenigen, die auch während des Lockdowns am wenigsten zu lachen haben und ihren Protest auf ganz eigene Art ausdrücken. Von DIETMAR JACOBSEN

Junger Mann ohne Eigenschaften

Roman | Arno Geiger: Selbstporträt mit Flusspferd Spätpubertierende Studenten, unerfüllte Liebe und ein antriebsloses Hippopotamus vermengt der österreichische Autor Arno Geiger zu einem trägen Sommerroman. Gelangweilt kämpft sich INGEBORG JAISER durch ein fahles Selbstporträt mit Flusspferd.