Trauer ist wie ein Schatten

Roman | Peter Zantingh: Nach Mattias

Was macht das Wesen eines Menschen aus? Was bleibt zurück, wenn er nicht mehr da ist? In seinem neuen Roman Nach Mattias nähert sich der niederländische Autor Peter Zantingh leichtfüßig, aus verschiedenen Blickwinkeln und doch auf einfühlsame Weise einem sehr elementaren Thema an. Von INGEBORG JAISER

Jeder wird diese unerwarteten Ereignisse kennen, die das Leben in ein Vorher und ein Nachher trennen: Krankheiten, Unfälle, Naturkatastrophen. Doch zu den schmerzlichsten Einschnitten gehört der Tod eines geschätzten, geliebten Menschen. Als ob für die Hinterbliebenen eine neue Zeitrechnung anbräche.

Scheinbar harmlos fällt der erste Satz in diesem Roman: »Eine Woche nach Mattias wurde sein Fahrrad geliefert.« Hier ließen sich noch unbedarft verschiedene Lesarten vermuten: eine Abreise, ein Umzug, eine Trennung. Doch langsam, mit wachsender Deutlichkeit, zeichnet sich das Ungeheuerliche ab. Mattias, die eigentliche Hauptfigur, ist nicht mehr am Leben. Wer war dieser junge Mann, was machte ihn aus, was trieb ihn an?

Sein Abbild erwächst aus der Sicht von neun verschiedenen Menschen, die ihn mehr oder weniger gut kannten. Für sie war er Freund, Enkel, Kompagnon, eine vage Geschäftsbeziehung oder ein tragischer Fall, den man vom Hörensagen kennt.

Jedes Kapitel des Romans fügt neue Nuancen und Sichtweisen hinzu, umkreist das wahre Wesen von Mattias in weiten elliptischen Bögen, nähert sich dann vorsichtig an, um wieder größere Schleifen zu ziehen. Kann man jemals zum wahren Kern eines Menschen vordringen?

Reigen der Hinterbliebenen

»Er war gesellig, kontaktfreudig, schenkte seinem Gegenüber […] seine volle Aufmerksamkeit« sagen alle kurz nach seinem Tod. Doch die nahen Hinterbliebenen fühlen sich bedrängt, vereinnahmt, sogar betrogen. »Meine Trauer war nicht mein Eigen«, bemerkt Mattias Freundin Amber mit Befremden. »Meine Trauer war die von all jenen, die sein Facebook-Profilfoto teilten. Sie war die von Twitter. Sie wurde ausgeschlachtet und als Hashtag oder Pageview vermarktet.«

Auch Mattias Mutter Kristianne fühlt sich unverstanden, bis hin zu den gut gemeinten Reden auf der Trauerfeier, die doch gerade die scheinbar unpassenden Episoden aus dem Leben des Verstorbenen heraufbeschwören. Wie gut tut da das nächtliche Gespräch mit einer Unbekannten, die »nicht wie alle anderen krampfhaft zu relativieren versucht, indem sie Dramatisches aus ihrem eigenen Leben dagegenhält.«

Mehrfach verwobene Beziehungen

Nach Mattias spielt alle möglichen Schattierungen der Trauer durch, die tiefschwarzen, dunklen ebenso wie die zaghaften, fragilen. Die einzelnen Kapitel entwickeln sich zu sorgsam geschliffenen Miniaturen, vielfach gespiegelt durch gemeinsame Berührungspunkte und verbindende Momente. Durch die multiperspektivische Komposition vermag Peter Zantingh eine ganz besondere Spannung zu erzeugen. Denn sehr lange wird der Leser über Mattias´ Todesumstände in Unkenntnis gelassen. War es ein Unfall, eine Überdosis, ein Suizid?

Wie Puzzlesteinchen fügen sich die Erinnerungsfetzen und Überlebensstrategien der Hinterbliebenen zusammen und können doch niemals zur wahren Persönlichkeit des Verstorbenen durchdringen. Die Leerstellen in Raum und Zeit werden bleiben. Trotz der düsteren Thematik ist Nach Mattias ein helles, Mut machendes Buch, das durchaus zum wiederholten Lesen einzelner Kapitel einlädt, zum Nachdenken, Innehalten. Und da Musik in diesem Roman eine wichtige Rolle spielt, unterstreicht die angehängte Playlist einzelne Motive, eröffnet gar neue Dimensionen.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Peter Zantingh: Nach Mattias
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Zürich: Diogenes 2020
240 Seiten. 22.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mit den Worten spielen

Nächster Artikel

»Wahrer Schatz an maritimer Kunst«

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Massenmörder und Bach-Musik

Roman | Leon de Winter: Geronimo »Er war natürlich nicht nur ein Monster. Er war auch menschlich. Aber das macht es noch schlimmer«, erklärte der niederländische Erfolgsschriftsteller Leon de Winter kürzlich in einem Interview über seine Romanfigur Osama bin Laden. Der 62-jährige Autor hat sich auf das Wagnis eingelassen, ein Stück jüngere Zeitgeschichte umzuschreiben. In seinem neuen Roman Geronimo wird bin Laden im Frühjahr 2011 von den US-Spezialeinheiten nicht erschossen, sondern entführt. Von PETER MOHR

Ich will mein eigener Freund sein

Roman | André Heller: Das Buch vom Süden »Es ist die Geschichte eines Menschen auf der Suche nach der angstlosesten Form seiner selbst.« Mit diesen Worten hat André Heller kürzlich seinen eigenen Roman Das Buch vom Süden, das soeben im Wiener Zsolnay erschienen ist, beschrieben. Mit nun fast 70 Jahren hat der Wiener Universalkünstler (Chansonnier, Theatermacher, Gartenkünstler, Entertainer und Feuerwerker) nach den Erzählungen Schlamassel (1993) und Wie ich lernte, bei mir selbst zu sein (2008) ein stark autobiografisches Sehnsuchtsbuch vorgelegt, eine pathetische Hymne auf das Unkonventionelle. Gelesen von PETER MOHR

Der Traum von der Golden Gate Bridge

Jugendbuch | Ying Chang Compestine: Revolution ist keine Dinnerparty Die Kulturrevolution in China endetete offiziell im Jahr 1969. Die Säuberungsaktionen gegen Andersdenkende, der Tod von Hunderttausenden, physische und psychische Misshandlungen währten aber bis zum Tod Maos. Was das tatsächlich für eine Familie bedeutet, erfährt man aus der Sicht der neunjährigen Ling. Von ANDREA WANNER

Morgen früh auf dem Heldenplatz

Roman | Elisabeth De Waal: Donnerstags bei Kanakis Der Roman Donnerstags bei Kanakis wurde zu Lebzeiten der Autorin Elisabeth De Waal nie publiziert, gelangte jedoch nach ihrem Tod als vergilbtes Typoskript in die Hände ihres Enkels. Nun wurde das ausdrucksvolle zeitgeschichtliche Porträt der Wiener Nachkriegszeit erstmals veröffentlicht. Von INGEBORG JAISER

Drei Biedermänner auf dem Weg zur Hölle

Roman | Kate Atkinson: Weiter Himmel

Jackson Brodie hat keine Lust mehr auf die großen, ebenso spektakulären wie gefährlichen Fälle. In einem beschaulichen, an der Nordostküste Englands gelegenen Örtchen ist ihm eher an kleinen Aufträgen gelegen, auch wenn die ihm finanziell nicht unbedingt lange über Wasser halten. Und doch wird Kate Atkinsons Privatermittler, der in Weiter Himmel seinen fünften Auftritt hat, schneller als er denkt wieder in einen Fall hineingezogen, in dem drei Saubermänner mit schmutzigen Westen die Hauptrollen spielen. Von DIETMAR JACOBSEN