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Zwickmühle

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zwickmühle

Geschenkt, sagte Thimbleman, der Plan ist das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt ist.

Wovon redest du, fragte der Ausguck, wandte sich ab und nahm kurz Anlauf. Nichts geht über diese Lagune, fügte er erfreut hinzu, schlug einen Salto, streckte sich genießerisch in den warmen Sand, verschränkte die Hände unter dem Nacken und wartete.

Fußball, sagte Thimbleman.

Der Ausguck lachte. Die einträglichste Sportart des einundzwanzigsten Jahrhunderts? Er winkte ab. Kein Interesse, sagte er, wir leben im neunzehnten, sind auf Walfang und wissen nicht einmal, was Sport ist. Vergiß es.

Covid-19 grassiert, die Infektionsrisiken sind hoch, da werden die letzten Spiele der Champions League im K.O.-Modus ohne Publikum in Lissabon ausgetragen.

Publikum? Der Ausguck lachte. Wer schütze die Spieler, fragte er. Bei Juventus Turin, habe er gelesen, seien einzelne positiv getestet worden. Ob sie die Abstände nicht eingehalten hätten, spottete er, und ob sie keine Masken trügen.

Beim Tennis seien Meldungen für die US Open, die Ende August in Flushing Meadows beginnen sollen, zurückgezogen worden, Rafael Nadal bei den Männern, Ashleigh Barty und Bianca Andreescu bei den Frauen, der Aufenthalt in den hoch infektiösen USA sei ihnen zu riskant.

Im Fußball ist das so nicht möglich, Thimbleman, weil der Spieler vertraglich an den Verein gebunden ist, da kommt er nicht heraus, die UEFA legt ein Sicherheitskonzept vor und zieht ihr Turnier durch, the show must go on, schließlich geht es um Milliardenbeträge, da ist die UEFA in der Zwickmühle, ein Double Bind, der einzelne Spieler bleibt trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gefährdet, doch keine Diskussion, nicht jetzt, nein, das Thema ist tabu, sie werden den Betrieb ingang halten.

PSG spielt im Finale, und Paris ist zur Zeit eine gefährdete Region, ein Lockdown steht an, und trotzdem herrscht Schweigen, verdächtig konsequentes Schweigen.

Alles wird gut, Thimbleman! Positiv denken!

Ein Profi von Mainz 05 wurde positiv getestet, das Testspiel gegen den VfB Stuttgart wurde deswegen abgesagt, und sieh dir den Amateurfußball an, Altona 93 gegen Eintracht Norderstedt im Lotto-Pokal, da werde gespielt, als gäbe es die Seuche nicht. Die Lage ist kompliziert, weltweit kompliziert, und niemand möchte Unruhe stiften. Aber ein solches Konzept kann nicht richtig sein, oder?

Was sollen sie tun?

Sie sollen ehrlich sein, anstatt daß sie eine brüchige Fassade polieren und vergnügte Stimmung inszenieren. Nichts geht mehr, das Gebäude stürzt ein, das Virus ist uns über, himmelweit über. Was der Mensch unternimmt? Er sucht dem Virus auszuweichen, er läuft davon, er bringt sich in Sicherheit.

Mehr kann er nicht tun?

Mehr kann er nicht tun, das Virus ist anpassungsfähig, veränderlich, brandgefährlich und nach menschlichen Begriffen: eine faszinierende Schwarmintelligenz, unwiderstehlich, eine dämonische Kraft auf höchstem Niveau. Auch ein Impfstoff verleiht keinen hundertprozentigen Schutz, Ausguck, doch unverdrossen wird das Lied auf den technologischen Fortschritt angestimmt, der es schon richten werde.

Und das beruhigt?

Ein Pfeifen im Walde, Ausguck, und definitiv eine Bankrotterklärung, die Fußballspieler wären auch geimpft noch einem Risiko ausgesetzt. Was lernt der Mensch daraus?

Nichts lernt er.

Was können wir froh sein, Ausguck, daß wir uns in dieser abgelegenen Lagune aufhalten.

Im neunzehnten Jahrhundert.

Im neunzehnten Jahrhundert, Ausguck, der Grauwal macht uns schwer zu schaffen, unsere Harpuniere sind angeschlagen, wir lungern untätig am Strand herum – mehr Leben geht nicht.

Definitiv, sagte der Ausguck, lachte, nahm drei Schritt Anlauf und schlug einen Salto.

Thimbleman applaudierte begeistert.

| WOLF SENFF

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Nicht mit mir, sagte der Ausguck, er ertrage diese Art Gäste nicht, sie störten in der Ojo de Liebre.

Harmat empfand die Besuche als lehrreich, Ramses gebe eine gute Figur ab, und Bildoon war überzeugt, daß man auf diese Weise die Welt kennenlerne. Weshalb nicht, sagte er, solange man eh nicht auf Walfang gehen könne, sei die Zeit nicht vertan.

Sie seien lebendig, sagte Crockeye.

Der King of Rock 'n' Roll würde ihn interessieren, sagte Touste, Gramner habe ihn kürzlich erwähnt.

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Er hat sich sehr aufgeregt, sagte Farb, du hättest ihn erleben sollen.

Tilman nickte.

Annika schlug ihre Reisezeitschrift zu und legte sie beiseite.

Cheyne Beach liegt an der südwestlichen Ecke Australiens, nicht weit von Albany, sagte Tilman, fünfundsechzig Kilometer westlich, und wurde zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Stützpunkt der Walfänger, dort vor der Küste wurde immer schon dem Wal nachgesetzt, anderthalb Jahrhunderte lang war es eine einträgliche Industrie, und Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dort eine Station zur Verwertung der Walkadaver eingerichtet, die Cheyne Beach Whaling Company, die allerdings nicht besonders ertragreich war.

Annika lächelte. Das, sagte sie, war schon die Folge der ersten Jahre der weltweiten Proteste gegen den Walfang.

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Der Bruder sei leicht abgehoben, charakterlich, ja, sagte Setzweyn und unterdrückte ein Lächeln, er fliege, er fliege leidenschaftlich gern in der Welt umher, habe jedoch null Interesse an Reisezielen, nein, touristisch auf gar keinen Fall, er besitze eine Cessna, ein bequemes kleines Gerät, mit dem er vorzugsweise abseits der großen Pisten starte und lande, er genieße das als ein Abenteuer, denn es sei ein großartiges Gefühl, vom Erdboden abzuheben, himmelwärts, sagte Setzweyn, da könne er ihn verstehen.

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Lite Ratur | Wolf Senff: Abstiegskampf Krähe, lass mich erzählen. Nein, Fußballfan bin ich nicht. Sei mal still. Dass ich samstagsnachmittags Bundesligakonferenz höre, ist mir zur Gewohnheit geworden; so sehr, dass ich’s an spielfreien Wochenenden vermisse, wie man eben eine vertraute Gewohnheit vermisst. Zwei-, dreimal in den letzten Jahren war ich im Stadion, bei St. Pauli, klar, zum HSV, nein, dazu lieber kein Wort. Von WOLF SENFF

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Höchste Zeit, sagte Anne, höchste Zeit auch für eine feministische Kultur des Gedenkens.

Tilman beugte sich vor.

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Tilman schenkte Tee nach.

Doch bleiben diese Themen nicht letztlich beliebig?, fragte Anne.

Er stellte die Teekanne zurück auf das schlicht weiße, zierliche Stövchen.

Und? Was fehlt?, fragte er.