Wenn der Matjes an der Decke klebt

Mayday! Seenotretter über ihre dramatischsten Einsätze

Das Buch lohnt sich in mehrerlei Hinsicht: Zum einen gibt es durch sehr persönliche Berichte, die dramatisch und spannend sind, Einblicke in die Aufgaben derjenigen, die bei der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) arbeiten; zum anderen erhält man viele Hintergrundinformationen über die Organisation mit der langen Abkürzung, deren Spendenschiffchen jedem sicher schon einmal über den Weg gelaufen sind. BARBARA WEGMANN über ein ganz besonderes Buch.

MaydayFangen wir mal mit ein paar Zahlen an: Rund 1000 Mann zählt die Truppe der DGzRS, davon sind 800 Freiwillige, an 55 Stationen an Nord- und Ostsee sind sie im Notfall im Einsatz. Mit 60 Seenotrettungskreuzern und – booten überwachen sie die Sicherheit an der deutschen Küste, bergen Verletzte, in Seenot Geratene, immerhin, wie im vergangenen Jahr in 2000 Einsätzen. Unzählige Menschen verdanken den Rettern auf See ihr Leben, dieser Organisation, die sich durch Spenden finanziert und die es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt.

»Schwerer Sturm in der Ostsee, und der Traditionssegler »Pippilotta« treibt manövrierunfähig in den Wellen. An Bord: 18 Schulkinder. Die Wellen sind zu hoch für eine Abbergung …!«
Für Rolf Detlefsen ist es ein schwieriger Einsatz, es ist, wie er sagt, der schwerste Sturm seines Lebens, Windstärke 12, »Der Horizont gleicht einer Wand aus Wasser … Zu allem Überfluss steht der Wind gegen die Strömung, sodass sich eine gewaltige See aufbaut.« Es wird ein sehr schwieriges Rettungsmanöver, eine gefährliche Aktion, aber schließlich kommen alle gut an im Marinestützpunkt Olpenitz. »Auf unserem Kreuzer sieht es aus, als hätten zwei Granaten eingeschlagen. Die Schränke sind leer geräumt, die Verriegelung des Kühlschranks ist aufgebrochen, der Matjes klebt an der Decke.« 18 junge Schüler und Schülerinnen gehen schwankend aber gerettet von Bord, »dehydriert und erledigt«. Ob sie jemals wieder ein Segelschiff betreten haben, das weiß Rolf Detlefsen nicht.

Die alles andere als ungefährlichen Einsätze der mutigen Männer und auch Frauen lesen sich wie Kurzkrimis, abenteuerlich, sehr berührend, beeindruckend und bewegend. Irgendwie mit dem Meer zu tun hatten sie alle, bevor sie zur DGzRS kamen, oft waren schon Vater oder Großvater mit dabei und auch sie selbst bleiben nicht selten für Jahrzehnte dort. Oft neben dem Job, oft nach dem Job, schon in der Rente. Irgendwie können sie nicht anders, eine Berufung, eine Faszination und eine tiefe Überzeugung, Menschen helfen zu wollen, ehrenamtlich. Die 25 wiedergegebenen Geschichten sind Berichte über Einsätze, aber auch Zeugnisse von außerordentlich viel Mut und Engagement, denn all die Retter setzen bei ihren Einsätzen auch ihr eigenes Leben aufs Spiel.

So auch im Fall des auf eine Sandbank aufgelaufenen Frachters vor Amrum. Der Kapitän lehnt zunächst jede Hilfe ab, aber der Sturm zieht auf, 25 Seeleute in größter Lebensgefahr. Nach dem gelungenen Einsatz wird der Vormann Harry Tadsen sagen »Ach wat, Jong. Hat doch gut geklappt …« bloß kein Wort zu viel, nur nicht den Eindruck erwecken, dass etwas Besonderes geleistet wurde.«

Lange haben sich die beiden Journalisten Zeit gelassen für einfühlsame Gespräche, haben die Taten der Männer und Frauen in ihren Texten noch einmal lebendig werden lassen. Plötzlich erhält eine so gewohnt klingende, aber anonyme Gesellschaft, die DGzRS, ein Gesicht. So auch bei der Rettung von 142 Menschen aus dem Watt, ein Betriebsausflug. Karl-Friedrich Brückner hört an dem Tag nur ein Krächzen über Funk, aber sein Bauchgefühl und seine Erfahrung sagen ihm, dass etwas nicht in Ordnung ist. Er wird recht behalten. »Das Watt ist nichts für Sonntagsspaziergänge«.

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Mayday! Seenotretter über ihre dramatischsten Einsätze
Stefan Kruecken, Jochen Pioch (Texte)
Enver Hirsch, Thomas Steuer (Fotos)
Hollenstedt: Ankerherz Verlag 2017
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
216 Seiten, 29,90 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Nachts auf der Autobahn, den Kopf aus dem Beifahrerfenster

Nächster Artikel

Im Westen nichts Neues

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Zurückgezogenheit im Rausch

Gesellschaft | Leslie Jamison: Die Klarheit Man kennt die Geschichten über Sucht, bevor man sie ganz gehört hat, denn sie ähneln sich erschreckend. Leslie Jamison, die selbst jahrelang mit dem Verlangen nach Alkohol kämpfte, wagt sich an die Genesung und Heilung als spannende, lebensbejahende, befreiende Alternative. Von MONA KAMPE

Diebischer Spaß

Kulturbuch | Andreas Tönnesmann: Monopoly Zeig mir, was du spielst, und ich sag dir, was aus dir wird! Wer sein Adrenalin mit Ego-Shooter-Games auf- und abhetzt, kann im Grunde nur Amokläufer werden. Genau wie prädigitale Generationen im nicht-sozialistischen Wirtschaftsgebiet bekanntlich durchweg miese Kapitalistenschweine wurden, weil sie mit Feuereifer Monopoly gespielt hatten. Wie albern solche Kurzschlüsse sind und was sich stattdessen an Kulturell-Politisch-Gesellschaftlichem mit Monopolyverknüpfen lässt, zeigt Andreas Tönnesmanns in Monopoly. Das Spiel, die Stadt und das Glück. Von PIEKE BIERMANN

Pracht und Prunk vergangener Zeiten

Kulturbuch | Norbert Wolf: Art Deco Der Prestel Verlag hat mit Norbert Wolf den Richtigen getroffen, um Glanz und Elend des ›Art Deco‹ in seiner Gesamtheit darzustellen. Eingebettet in die Kreativität und die Unruhe der zwanziger Jahre hat das Design des Art Deco unseren Geschmack auf Jahrzehnte geprägt, ohne jemals aus seiner Zwitterstellung zwischen Kunst und Kunsthandwerk ausbrechen zu können. VIOLA STOCKER ließ sich gerne erklären, warum das so ist.

Entschleunigt in den Urlaub

Sachbuch | Manuel Andrack: Wanderglück Deutschland

Es ist gesund, es macht Spaß, es ist klimafreundlich, es bringt Kondition und man lernt und erfährt eine ganze Menge: beim Wandern. BARBARA WEGMANN stellt zwei Bücher vor, mit denen sie per Pedes durch ganz Deutschland kommen. Lassen sie sich inspirieren.

Im Brennpunkt: Putin

Gesellschaft | K.Gloger: Putins Welt / M.Sygar: Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin / W. Laqueur: Putinismus. Wohin treibt Russland? / H.Seipel: Putin. Innenansichten der Macht Das ist so eine Sache mit dem Bild, das der Westen sich vom russischen Staatspräsidenten zurechtlegt. Niemand kennt ihn persönlich, aber jeder weiß, um was es geht, alle reden mit und alle reden reichlich, Katja Gloger, Redakteurin beim ›Stern‹, durfte ihn eine Zeitlang begleiten. Von WOLF SENFF