Advanced Science

Lyrik | Martin Jürgens: Advanced Science

1 Gelungen scheint der Prototyp: Gewebe,
Blutgefäße, Kammern – alles da und
Vorzeigbar und clean und herzig rot wie
Eine reife, übersüße Frucht, wenn dieses
Bild nicht lügt, doch kleiner als das
Hasenherz, das furchtsame, das einer
Kirsche gleicht, so klein wie das, was eine
Schwangere, glaubt sie, nachts unter ihrem
Herzen schlagen fühlt, und von der
WAHREN GRÖSSE unsres Herzens,
Wie sie seit je in Schrift und Bild
Und Ton bemessen und gefeiert
Wird, so weit entfernt wie wir
Vom Sternbild des Orion
In einer Winternacht.

2 Ach ja, das Herz: so
Eigensinnig unreif bis
Zum bittren End und süchtig
Nach dem kleinen Tod von
Anfang an, hungrig aufs Leben,
Ohne Maß und furchtbar hilflos,
Herrlich angreifbar. Es fleht,
Wird angefleht, geht auf wie eine
Lilie im schönen Monat Mai und
Geht verloren, Heine sagt es,
Ebenfalls im Mai und schlägt wie
Wild, verwundet wird es, schreit
Sieben Jahre lang »Ro-se-ma-rie«
Und wird nicht kalt, ausgehen soll
Es, Freude suchen, leichtsinnig wird’s
Verschenkt in einer lauen Sommernacht
Und weiß nicht aus noch ein.

Unruhig bleibt es, heißt es, bis es ruht
In was? In dieser Bonbonflüssigkeit?
In der Retorte dieses Instituts in
Tel Aviv? Im siebten Himmel
Avancierter Wissenschaft?

3 Und wenn das geht und wenn wir
Wissen: Es gibt ein neues aus dem
3D-Drucker jedes zehnte Jahr. Was
Wird mit unsern Ups and Downs,
Mit himmelhoch jauchzend / zu
Tode betrübt / was alles erblühte /
Verblich? Wie hört man auf mit
Sich? Hört man noch auf mit der
Unsterblichkeit als Lockung
Hart im Genick?

Befrag dazu dein Herz, so
Klein, so klug, groß,
Wild, so zaghaft
Und so dumm es
Ist. Und dann:
Dawai!

PS Zeit der Herzen,
Klein wie Kirschen,
Wie das Hasenherz so klein
Und uns doch weit voraus.

»Zeit der Kirschen«*, größer
Nichts bisher für jedes Herz
In jeder Frau, in jedem Mann:
Ein Liebeslied als Hymne für
Die Zukunft dieser Welt. Das
Ist lang her, fast hundertfünfzig
Jahre, und ist uns doch so
Weit voraus, dass man sich
Kaum erinnern kann.

*»Les temps des cerises«, Lied der Commune von 1871

| MARTIN JÜRGENS
| Abbildung: Picture Alliance / AP

Martin Jürgens, geb. 1944, lebt in Berlin; er war dort Hochschullehrer, arbeitete als Regisseur für Theater in Berlin, Münster und Köln, er publizierte diverse literarische und wissenschaftliche Arbeiten und verfaßte Hörspiele für Radio Bremen und den WDR. Viele seiner Lyrik-Beiträge für ›Konkret‹ erschienen unter dem Titel ›Frau Merkel sieht auf ihrem Schuh ein Streifenhörnchen, das sich putzt‹ (2015).

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wahre Geschichten über die Wächter der See

Nächster Artikel

Fürstin der Finsternis

Weitere Artikel der Kategorie »Lyrik«

Aufbruch in die Geschlossenheit einer offenen Landschaft

Lyrik | Andreas Altmann: Die lichten Lieder der Bäume liegen im Gras und scheinen nur so 2010 erschien im Verlag des poetenladens der Gedichtband Das zweite Meer von Andreas Altmann. Nach der Neuauflage des Buches als Taschenbuch und dem 2012 veröffentlichten Sammelband Art der Betrachtung mit ausgewählten Gedichten aus den letzten 20 Jahren erschien in diesem Jahr nun der neue Lyrikband Die lichten Lieder der Bäume liegen im Gras und scheinen nur so. Von STEFAN HEUER

Prioritäten (2)

Lyrik | Vierzeiler der Woche – von Michael Ebmeyer  Mach es wie die Sonnenuhr Schlaf dich aus und bleib dann liegen

Tauchfahrt in maritimen Tiefseemetaphern

Lyrik | Crauss: Schönheit des Wassers Ein neuer Gedichtband von CRAUSS mit dem Titel Schönheit des Wassers ist im Berliner Verlagshaus J. Frank erschienen. Der Autor entführt in seinen 66 »pseudoromantischen kalligraphien« in bunte Wasserwelten – überall Glitzern, Blinken, Schimmern, über und unter Wasser. Das Wasser zieht magisch an, es geht stromab-, stromaufwärts und blickt in ferne Unterwasserwelten. HUBERT HOLZMANN unternimmt mit der Tauchgondel einen Versuch, in die Tiefen der CRAUSS’schen Lyrik vorzudringen.

DIE HANDYS HOCH!

Lyrik | Martin Jürgens: DIE HANDYS HOCH!

Vom Bildermachen in
den Zeiten vor der
Pandemie

Außerdienst-Stellung eines Oberhemds

Lyrik | Peter Engel: Außerdienststellung eines Oberhemds

Jahrelang hast du mich ertragen,
während ich deinen schönen Stoff trug,
deine Baumwolle war nachhaltig
und hat mich temperiert,
mit dir fühlte ich mich besser
als mit anderen deiner Art.