Bruderliebe

Roman | Jo Nesbø: Ihr Königreich

Gelegentlich platziert der norwegische Bestsellerautor Jo Nesbø zwischen die Bände seiner weltweit erfolgreichen Harry-Hole-Reihe zur Auflockerung einen Standalone. Ihr Königreich heißt der neueste und er erzählt die Geschichte der Brüder Carl und Roy Opgard, die, auf einem norwegischen Gebirgsbauernhof  unter der Fuchtel eines unnachgiebigen Vaters aufgewachsen, nach 15-jähriger Trennung wieder ein Zusammenleben versuchen. Aber der Jüngere, Carl, hat in der Fremde nicht nur geheiratet, sondern auch Pläne im Gepäck, deren Verwirklichung den ganzen Ort reich machen soll. Und allgemach steuert das Verhältnis der beiden ungleichen Männer auf eine Katastrophe zu, deren Ursachen nicht nur in der Gegenwart liegen. Eine Rezension von DIETMAR JACOBSEN

Carl Opgard hat viel vor mit seinem Heimatort Os, als er nach 15-jährigem Aufenthalt fern von Norwegen eines Tages – man schreibt das Jahr 2017 – wieder bei seinem Bruder Roy auftaucht. Der hat Hof und Land hoch über dem Ort, vom gemeinsam mit seiner Frau bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommenen Vater immer als das »Königreich« der Familie bezeichnet, in der Zwischenzeit versorgt, betreibt im Ort eine gutgehende Tankstelle und ist zufrieden mit dem, was er hat, auch wenn ihn das nicht reich macht.

Sein jüngerer Bruder Carl hingegen, dem er, als beide noch bei den Eltern wohnten, immer unter die Arme greifen musste, hat sich während der langen Abwesenheit verändert. Aus dem eher zaghaften, ängstlichen Bürschchen von einst ist ein gewiefter Geschäftsmann geworden, der mit einer jungen Frau und großen Plänen nach Hause zurückkehrt.

Rückkehr nach Os

Ein Wellness-Hotel  will das Pärchen aufs Grundstück der Eltern stellen. Alles vom Feinsten und auf maximalen Gewinn ausgerichtet. Sie hat das hypermoderne Gebäude entworfen, er die Aufgabe übernommen, möglichst viele Dorfbewohner mit ihrem Grund und Boden  für das 400 Millionen Kronen teure Objekt bürgen zu lassen. Dass der bodenständige Roy etwas gegen diesen Plan haben könnte, glauben die beiden nicht.

Aber Carls Bruder weiß ganz genau, dass die abgelegene Gegend im Südosten Norwegens ihre besten Tage längst hinter sich hat. Bekommt Os endlich die seit Jahren geplante Umgehungsstraße, wird der Ort schnell komplett veröden. Und noch etwas hat Carl nicht bedacht: Als er vor Jahren seiner Heimat den Rücken kehrte, hat er verletzte Menschen zurückgelassen, die nun, da er wieder da ist, versuchen könnten, sich an ihm zu rächen.

Doch zunächst scheint das Kalkül aufzugehen. Angesichts des rosigen Zukunftsbildes, das der Heimkehrer – nicht ohne die eine oder andere Lüge – vor seinen Mitbürgern entwirft, erzeugt er im Ort genau jene Aufbruchsstimmung, die er für sein Projekt benötigt. Allein bald stellen sich erste Probleme ein. Und die resultieren nicht nur aus der Tatsache, dass die angeheuerte Baufirma nach einer Besichtigung des schwierigen Baugrunds auf dem Gipfel eines Berges mehr Geld verlangt, sondern haben ihre Ursache auch in der Vergangenheit der beiden Brüder.

Ein toter Polizist und sein Sohn

Denn nicht nur der Unfalltod ihrer Eltern, sondern auch das spurlose Verschwinden des alten Ortspolizisten Sigmund Olsen nach einem Angelausflug mit Roy sorgen bis in die Gegenwart für wilde Gerüchte, die allesamt die beiden Opgard-Brüder mit den drei Todesfällen in unheilvolle Verbindung bringen. Vor allem Sigmund Olsens Sohn Kurt gibt sich als Nachfolger seines Vaters nicht mit den offiziell geltenden Erklärungen in beiden Fällen zufrieden. Und als nach der Rückkehr Carls alsbald weitere Verbrechen geschehen und ein Brandanschlag auf das entstehende Hotelgebäude die Kosten für den Bau in die Höhe treibt, ist er es, der mit allen Mitteln versucht, den alten wie neuen Geheimnissen der Brüder auf die Spur zu kommen.

Ihr Königreich wird hauptsächlich aus der Perspektive des Älteren der beiden Opgard-Söhne erzählt. Roy ist der Bodenständige, der seinen Bruder seit ihrer gemeinsamen Kindheit immer wieder aus verfahrenen Situationen herausboxen musste. Nur hat er offensichtlich versagt, als es darum ging, den Jüngeren und Schwächeren über Jahre hinweg vor seinem übergriffigen Vater in Schutz zu nehmen. Das Schuldgefühl, welches daraus resultierte, lässt Roy auch nach der Rückkehr Carls übersehen, dass der in den vielen Jahren in den USA und Kanada zwar zum Mann gereift ist, sein leichtsinniger Charakter und die Angewohnheit, jedes Projekt, das er beginnt, über kurz oder lang in den Sand zu setzen, ihn aber nach wie vor zu jemandem machen, dem man nicht über den Weg trauen kann.

Und so setzt sich fort, was schon in der Vergangenheit dafür sorgte, dass nichts die beiden Opgard-Brüder auseinanderbringen konnte. Ob die intelligente und äußerst reizvolle Frau, die Carl aus der Fremde mitbringt und in die sich Roy nach und nach verliebt, diesem engen Verhältnis zwischen den Männern gefährlich zu werden vermag, ist die Frage, mit deren Beantwortung der Roman sich die meiste Zeit lässt.

Einmal des Bruders Beschützer – immer des Bruders Beschützer

Jo Nesbøs neuer Roman ist die gut erzählte Geschichte zweier Männer, denen es nicht gelingt, voneinander loszukommen. Anders als in seiner Harry-Hole-Reihe setzt Nesbø in Ihr Königreich weniger auf explizite Gewalt. Stattdessen erzählt er eine Familiengeschichte aus der norwegischen Provinz und nimmt seine Leser mit in einen untergehenden Ort, den ein waghalsiger Plan aus der drohenden Bedeutungslosigkeit retten soll. Mit Anspielungen auf die biblische Kain-und-Abel-Geschichte – Abel ist der zweite Vorname von Carl Opgard, was der Name signalisiert, löst der Roman aber auf andere Art und Weise ein als das biblische Urbild vermuten lässt –, einer bilderreichen Sprache und einem Figurenensemble, das bis in die kleinsten Nebenrollen sorgfältig, wenn auch gelegentlich etwas zu eindimensional gezeichnet ist, beweist der Autor, dass es nicht immer eine Dynamitladung sein muss, mit der man seine Geschichten aus dem Steinbruch des Lebens heraussprengt.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Jo Nesbø: Ihr Königreich
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Berlin: Ullstein 2020
587 Seiten. 24,99 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

reinschauen
| Leseprobe
| Dietmar Jacobsen über Jo Nesbø in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zum Leben erweckte Monster

Nächster Artikel

Zum Leben erwacht

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Summer of 69

Roman | Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter In seinem neuesten Roman zeichnet der Autor Ulrich Woelk ein berührendes und rückwirkend leicht melancholisch anmutendes Zeitpanorama der 1960er Jahre. Der Sommer meiner Mutter enthüllt eine Stimmung zwischen Bigotterie und dem aufkeimenden Wunsch nach Selbstverwirklichung, zwischen technischem Fortschrittsglauben und menschlichem Unvermögen. Eine Besprechung von INGEBORG JAISER

Was am Ende zählt

Roman | Julian Barnes: Die einzige Geschichte Am Lebensherbst angekommen, stellt sich jeder unweigerlich die Frage nach Liebe und Reue. Paul liebt eine 30 Jahre ältere, verheiratete Frau. Doch er bereut seine Liebesgeschichte nicht, denn – wie er von ihr lernt – es ist die einzige Geschichte, die zählt. Von MONA KAMPE

Bauen für den Endsieg

Thema | Fatherland: NS-Architektur im Roman Der dystopische Roman ›Vaterland‹ greift die Bauvorhaben des Hitler-Regimes auf und verarbeitet sie kritisch durch die Augen des Protagonisten. Dabei nutzte der Schriftsteller Robert Harris dieselben NS-Pläne für Berlin, die auch dem Publizisten Ralph Giordano für sein Sachbuch ›Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte‹ vorlagen. Von RUDOLF INDERST

Abgeschoben ins Ungewisse

Roman | Katja Lange-Müller: Drehtür »Irgendwann saß ich senkrecht in meinem Bett und dachte, was wäre eigentlich aus dir geworden, wenn du weiter im Krankenhaus gearbeitet hättest? Das war die Initialidee für das Buch«, hatte die Berliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller in einem Interview über das Entstehen ihres neuen Romans ›Drehtür‹ berichtet. Von PETER MOHR

Melancholischer Brückenbauer

Roman | Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir »Mit großem Aufwand versuchte ich der moralischen Pflicht nachzukommen, Mevluts Menschlichkeit auf 600 Seiten auszubreiten und ihn als vielschichtigen Menschen zu zeigen – und das, ohne auf die Tränendrüse zu drücken«, bekannte der Literatur-Nobelpreisträger von 2006, Orhan Pamuk, über die Hauptfigur seines neuen Romans Diese Fremdheit in mir. – Gelesen von PETER MOHR