Asche in zwei Urnen

Roman | Urs Faes: Untertags

»Ein Kuvert enthielt alles, was er verfügte. Was sie schmerzte. Was sie hinnahm und nicht begreifen konnte«, heißt es im bewegenden Roman des Schweizer Autors Urs Faes. Die Apothekerin Herta sichtet den Nachlass ihres verstorbenen, langjährigen Lebensgefährten Jakob, den sie in einem schleichenden Prozess verloren hat. Die Demenz hat ihn auf für Herta äußerst schmerzhafte Weise peu à peu aus dem Alltag verschwinden lassen. Von PETER MOHR

Der 73-jährige Urs Faes hatte sich in jüngerer Vergangenheit in seinen äußerst lesenswerten Werken Paarbildung (2010) und Halt auf Verlangen (2017) schon mit den körperlichen und seelischen Qualen von Krebspatienten auseinandergesetzt. Es las sich wie  eine Gratwanderung zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Angst und Zuversicht. Im neuen Roman liegt der Fokus auf der Rekonstruktion der letzten Lebensjahre, auf den langsamen Verfall und auf der Ohnmacht der Pflegenden.

Apothekerin Herta aus dem Zürcher Umland und der in Wyoming geborene Fabrikant Jakov hatten sich erst in der zweiten Lebenshälfte kennengelernt und noch zwanzig glückliche Jahre verbracht. Sie hatten gemeinsame Reisen an die Stätten seiner Kindheit unternommen und ein unbeschwertes Leben geführt, ehe die Krankheit Jakov aus dem Alltag entführte und übergangsweise in ein Zwischenreich aus Jugenderinnerungen und wirren Fantasien verfrachtete.

Eine zentrale Rolle spielt darin seine Jugendliebe Virginie, die zweite Frau seines Vaters, deretwegen es einst zum Bruch in der Familie kam und deren Namen er bei fortschreitender Krankheit immer wieder fragmentarisch stammelte. »Wer die Wörter verliert, gehört nicht mehr dazu«, hatte Jakov im Frühstadium gegenüber Herta erklärt. Was dann geschah, beschreibt Urs Faes gnadenlos offen und doch mit einem Höchstmaß an Empathie. Bei Jakov geht die Orientierung verloren, die Sprache bereitet Probleme, Autofahren ist nicht mehr möglich. Seine Emotionalitätskurve gleicht einer Achterbahnfahrt. Immer wieder beschwört er »Virginie« herbei. Nomen es omen – ist sie in seinen Erinnerungen die von ihm verehrte Jungfrau, die Unantastbare, die Unberührbare, die der Vater geschändet hat?

Bei Herta, die den Kranken aufopferungsvoll hegte und pflegte, die aber offensichtlich über dessen »Vorleben« nicht viel wusste, wächst eine quälende Mischung aus Eifersucht, Verstörung und Hilflosigkeit. Und doch ist diese bis tief ins Mark enttäuschte Frau zu einer großen Geste fähig: Sie verteilt Jakovs Asche nach dessen Tod auf zwei Urnen. Eine setzt sie (zusammen mit einer Mappe, die mit dem Namen »Virginie« beschriftet ist) am Waldrand unweit des Zürichsees bei, die Andere geht auf die Reise über den Atlantik zu Jakovs Kindern aus erster Ehe.

Erinnerungen und damit verbundene Emotionen sind ein Leitmotiv in Urs Faes Oeuvre. Schon 1991 ließ er in Alphabet des Abschieds eine Figur sagen: »Wir können unsere Zeit nicht zurückholen, du weißt es.«

Untertags ist ein Buch wie aus einem Zwischenreich, ein behutsames Abtasten von Grenzzonen – irgendwo zwischen Leben und Tod, Traum und Albtraum, Liebe und Schmerz und zwischen Erinnerung und Abschied angesiedelt. Tragisch, aber doch gleichzeitig auch versöhnlich changiert dieser Text zwischen intimer Nähe und verletzender Entfremdung.  Kraft seiner einfühlsamen Sprache versteht es Urs Faes wie kein Zweiter, uns schwer verdauliche Kost beinahe spielerisch leicht zu erzählen. Seine Worte können anscheinend zaubern und uns über  tiefsten Schmerz hinweg helfen und Trost spenden.

| PETER MOHR

Titelangaben
Urs Faes: Untertags
Berlin: Suhrkamp 2020
239 Seiten, 22 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Peter Mohr über Urs Faes in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Rettung durch die magische Kugel

Nächster Artikel

Zwischen Rebellion und Tradition

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Gestörte Entsorgung

Krimi | Wolf Haas: Müll

Wie der Simon Brenner zu Beginn seines neunten Abenteuers unter die Mistler geraten ist, verschweigt Wolf Haas dem Leser. Der ist allerdings schon dankbar, dass es den Brenner überhaupt noch gibt. Denn geschlagene acht Jahre hat er nichts von sich hören lassen. Und auch sein Erfinder (Jahrgang 1960) hat nur auf der Hälfte dieser Zeitspanne, also 2018, mit dem schmalen, autobiographisch inspirierten Roman Junger Mann darauf aufmerksam gemacht, dass es ihn (als Autor) noch gibt. Doch nun: dank des Zusammenspiels von Pandemie und Platzangst im Homeoffice ein neuer Brenner. Und Mistler oder nicht Mistler: Auf den Inhalt kommt es beim Haas eigentlich sowieso kaum an. Anders als beim Brenner, denn: »Für den Brenner das Inhaltliche eigentlich im Vordergrund.« Von DIETMAR JACOBSEN

Wie Hähnchen-Amok

Roman | Dorian Steinhoff: Das Licht der Flammen auf unseren Gesichtern »Kaffirlimonenblätter, Turmericwurzeln, Galgant, Koriander, Minze, süßes Thai-Basilikum und Zitronengras.« – Dorian Steinhoffs sieben Erzählungen seines gerade erschienenen Erzählbandes stellen eine ebenso bunte Gewürzmischung vor wie die des kambodschanischen Gerichtes namens Hähnchen-Amok, das in »Wasser«, der zweiten der sieben Geschichten, in einer Kokosschale serviert wird. Von VERENA MEIS

Bloß keine H-Milch!

Roman | Moritz Netenjakob: Milchschaumschläger »Aber es ging doch nicht um eine fremde Firma, Daniel. Es ging um unser Café!« Aylin ist schwer enttäuscht von ihrem Gatten. Droht mit dem gemeinsamen Traum vom eigenen Café die glückliche Ehe zu scheitern? Wie konnte es nur soweit kommen? Das fragt sich Milchschaumschlürferin MONA KAMPE. Schließlich wird im ›3000 Kilometer‹ gewissenhaft auf die H-Milch verzichtet!

Was würdest du tun, um frei zu bleiben?

Roman | Christina Dalcher: Vox 100 Wörter pro Tag, Doktortitel aberkannt, ein Leben für die Familie: Jean McClellan versteht die Welt nicht mehr. Denn in ihrer hat sie keine Stimme mehr. Begleiten Sie MONA KAMPE in eine erschreckende Dystopie, die alle Verstummten wachrüttelt.

Unter falscher Flagge

Roman | Horst Eckert: Im Namen der Lüge

Den Düsseldorfer Hauptkommissar Vincent Veih kennen die Leser hierzulande bereits aus drei Romanen Horst Eckerts. Nun, in Im Namen der Lüge, tritt mit Melia Khalid eine junge Frau an dessen Seite, die mit ihrem Team für den Staatsschutz in NRW die linke Szene beobachtet. Von DIETMAR JACOBSEN