Mit Der Solist präsentiert der unter dem Pseudonym Jan Seghers seit 2006 Kriminalromane schreibende Frankfurter Schriftsteller, Kritiker und Essayist Matthias Altenburg seinen Lesern einen neuen Helden. Neuhaus gehört seit kurzem zur Berliner Sondereinheit Terrorabwehr (SETA), die in einer Baracke auf dem Tempelhofer Feld residiert. Man schreibt den Spätsommer des Wahljahres 2017 und die Gefährdungslage in der Hauptstadt ist hoch. Damit nicht noch einmal Pannen wie bei den NSU-Morden und dem Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember des Vorjahres passieren, ist die SETA ins Leben gerufen worden. Doch der »Solist« Neuhaus hat auch noch einen delikateren Auftrag: Er soll die eigenen Leute überwachen, denn die deutschen Sicherheitsbehörden haben offensichtlich ein Naziproblem. Von DIETMAR JACOBSEN
Kaum ist Neuhaus, Jan Seghers‘ neuer Held ohne Vornamen, in Berlin angekommen, passieren kurz nacheinander drei Morde. Die Opfer: ein jüdischer Publizist, eine muslimische Anwältin und ein bayerischer Beamter aus dem Innenministerium. Alle drei standen in der Öffentlichkeit und waren für ihre Unnachgiebigkeit bekannt. Mordmotive gäbe es in jedem einzelnen der Fälle deshalb genug – die beiden Männer und die sich vor allem um die Probleme muslimischer Frauen kümmernde Juristin waren, jeder auf seine Art, angeeckt, wo sie nur anecken konnten.
Dass hinter den Taten ein und derselbe Täter steckt, ist ebenfalls schnell klar. Jedesmal war die gleiche Waffe im Spiel – eine vor 19 Jahren beim Überfall auf eine Zehlendorfer Postfiliale schon einmal benutzte und danach spurlos verschwundene Pistole. Und in der Nähe der wie bei einer Hinrichtung von hinten Getöteten fanden sich gleichlautende Bekennerschreiben, unterzeichnet von einem bis dato unbekannten »Kommando Anis Amri«. Aber wieso hat man gerade diese drei so unterschiedlichen Menschen ins Visier genommen?
Ein Jude, eine Muslima und ein Katholik
Waren es Racheaktionen für den vier Tage nach seinem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt in einem Städtchen nördlich von Mailand erschossenen flüchtigen Terroristen? Ein Verdächtiger jedenfalls ist bald gefunden. Philippe Boudia heißt der in Berlin geborene Deutsch-Algerier, der sich Salah nennt und mit Anis Amri vor dessen Tat regelmäßig um die Häuser zog. Die Sicherheitsbehörden hatten den Mann wegen seiner Kontakte zu Angehörigen der islamistischen Szene eine Zeit lang auf dem Schirm. Letzten Endes aber glaubten sie an seine Harmlosigkeit. Allein der Tod des Freundes hat Boudia offensichtlich radikalisiert. Und er muss Hintermänner besessen haben, die ihn mit einer Waffe versorgten und die drei Anschläge vorbereiteten, die er dann wie eine willenlose Marionette ausführte. Hintermänner, deren man schnell habhaft werden muss, bevor sie den nächsten Attentäter in die Spur schicken.
Nach sechs Bänden um den Frankfurter Kriminalhauptkommissar Robert Marthaler, erschienen zwischen 2006 und 2017, präsentiert Jan Seghers mit Der Solist seinen Lesern einen neuen Helden. In einigen Dingen gleicht der hessische LKA-Mann Neuhaus, der zu einer Sondereinheit der Terrorabwehr in die Bundeshauptstadt delegiert wird, seinem Vorgänger. Mit beiden ist eher schwierig umzugehen, keiner von ihnen lässt sich gern in die Karten schauen und sowohl Marthaler wie auch Neuhaus stellen ihr Privatleben in der Regel zurück, wenn es gilt, einen komplizierten Fall zu lösen.
Bei Neuhaus kommt hinzu, dass er der kleinen Berliner Einheit als »Solist« zugeteilt wurde, also allein dem BKA-Präsidenten unterstellt ist und selbst entscheidet, wo er am dringendsten gebraucht wird. Letzteres macht ihn unter seinen neuen Kollegen zwar nicht beliebt, hängt aber zusammen mit der geheimen Mission, die ihn in die Hauptstadt führt: Neuhaus soll nicht nur nach außen, sondern auch nach innen hin ermitteln. Denn der Eindruck, dass die Sicherheitsbehörden immer öfter auf dem rechten Auge blind zu sein scheinen, könnte letztlich auch daraus resultieren, dass man ein Naziproblem in den eigenen Reihen hat.
Rechtsradikale im Sicherheitsapparat
Auf knapp 200 Seiten und in 22 Kapiteln entwickelt Jan Seghers seine brisante, spannende und hochaktuelle Geschichte. Wie in einer Reihe anderer deutscher Romane der letzten Jahre – man denke etwa an Elisabeth Herrmanns Schatten der Toten (2019), Horst Eckerts Thriller Im Namen der Lüge (2020) und dessen gerade erschienene Fortsetzung Die Stunde der Wut (2021) oder auch André Georgis Die letzte Terroristin (2018) – geht es auch in Der Solist um die unheilvolle Verbindung zwischen rechtsnationalen Gruppierungen, ultrakonservativen Politikern und einflussreichen Kräften in den Sicherheitsbehörden. Gemeinsam sieht man seine Aufgabe längst nicht mehr in der Verteidigung der Demokratie, sondern in deren Verächtlichmachung und langsamen Unterhöhlung. Dazu ist jedes Mittel recht, auch die Ausnutzung der Angst vor islamistischen Anschlägen in der Bevölkerung und die perfide Instrumentalisierung ahnungsloser Menschen.
Wenn Neuhaus mit Unterstützung seiner türkischstämmigen Kollegin Suna-Marie Özdal, die von ihren Mitstreitern der Einfachheit halber Grabowski genannt wird und von Anfang an einen guten Draht zu dem ansonsten eher sein Außenseitertum kultivierenden Neuling zu haben scheint, am Ende einem teuflischen Komplott auf die Spur kommt, mit dessen Hilfe sich der radikale Teil der Partei »Die Aufrechten« Stimmen bei der bevorstehenden Bundestagswahl sichern will, ist zwar dieser erste Fall für den Frankfurter Ermittler in Berlin gelöst. Der Roman aber enthält genügend lose Fäden, an denen weitere Bände anknüpfen könnten.
Titelangaben
Jan Seghers: Der Solist
Hamburg: Rowohlt Verlag 2021
238 Seiten. 20.- Euro
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