Songs for all and none

Musik | Interview | marc moraire: Songs for all and none

Pünktlich zum Herbstbeginn erschien am 22. September das neue Album des Musikers marc moraire. Erst 2020 erschien mit dem musikalischen Drama »The Story of Robert Volant« sein Debütalbum. Jetzt legt er mit ›songs for all and none‹ nach und überrascht direkt mit einer Besonderheitt: Während er sich in seinem ersten Album zwei Musiker:innen für den Gesang mit ins Boot genommen hatte, singt marc nun selbst. Spoiler: Das kann sich sehen bzw. hören lassen! Von den Texten, über die Instrumente und Aufnahmen, bis hin zu den Fotografien, die die herbstliche Stimmung des Albums unterstreichen, entstammt das Projekt damit komplett marc moraires Feder. SARAH SCHMITTINGER traf den Musiker auf einen Tee an einem seiner Lieblingsplätze, einer Parkbank, um über das Gewicht der Welt zu sprechen.

Auch bei ›songs for all and none‹ handelt es sich wieder um ein englischsprachiges Album. Mit seinen sieben Tracks hat es eine Länge von knapp 30 Minuten. marc moraire liebt den Herbst, es sei seine favorisierte Jahreszeit, verriet er im Interview. Es verwundert also kaum, dass der erste Song den Titel ›autumn‹ trägt. Bereits mit ›The Story of Robert Volant‹ machte der Musiker deutlich, dass er nicht nur musikalisch, sondern auch literarisch einiges zu bieten hat. Auch die Lyrics zu ›songs for all and none‹ haben es ordentlich in sich – einzeln und noch viel mehr als Gesamtpaket. marc moraire versteht es, Charaktere einzuführen, Geschichten zu erzählen und die Hörer:innen zwischen Tristesse und Weltschmerz auf eine erfüllende Gedankenreise zu schicken.

Das Cover von Songs for all and one zeigt den Schriftzug, der über Wasser schwebt

Hey marc moraire! Du hast den 22. September 2021, den kalendarischen Herbstanfang, als Erscheinungsdatum deines neuen Albums gewählt. Kein Zufall oder?
Der Herbst inspiriert mich immer am meisten. Ich wollte unbedingt den ersten Herbsttag für mein Album-Release. Alles klingt nach Herbst, was ich mache – egal, zu welcher Jahreszeit ich es schreibe. Die meisten Ideen bekomme ich im Herbst, der Arbeitsprozess folgt dann im Laufe des Jahres.

Was magst du besonders am Herbst?
Die Blätter. Der erste Song ist ein Herbstgedicht und da habe ich eigentlich alles beschrieben, was ich am Herbst schön finde: dass die Blätter langsam welk und rot und gelb werden, das Licht, der Geruch – es ist einfach eine wunderschöne Jahreszeit. Ich mag es auch trist, so wie jetzt.

Das spürt man auch in deiner Musik. In deinen sieben Songs hört man eine starke Melancholie und Tristesse, einen Schmerz heraus.
Ja, auf jeden Fall. Das kommt eben auch mit dem Herbst – alles stirbt, aber auf eine schöne Art und Weise. Und, es lag jetzt nicht unbedingt an der Corona-Zeit, aber doch auch gerade in dieser Zeit sind wieder viele Sachen in der Gesellschaft zum Vorschein getreten, die total abgefuckt sind. Robert Volant spielt in einer Traumwelt. Ich wollte die Texte aber dieses Mal mehr in die Realität holen, damit sie das widerspiegeln, was ich gerade erfahre und das ist leider viel Scheiß, der in der Welt passiert und mich persönlich sehr fertig macht.

Für Robert Volant hattest du die Form eines musikalischen Dramas gewählt, das Album besteht aus Akten und Szenen. Ging ›songs for all and none‹ auch ein dramaturgischer Aufbau voraus?
Der große Unterschied zum ersten Album war, dass ich mir vorher keine Dramaturgie überlegt habe. Ich habe einfach Songs geschrieben, erst den Text, dann die Musik und am Ende die Reihenfolge entwickelt. ›Call of the void‹ habe ich mir als Höhepunkt gedacht, weil es mit Percussions untermalt ist und von der Aussage her am direktesten ist. Dann flacht es wieder ab, bis es mit ›Photograph‹ endet, der schmerzlichste und hoffnungsloseste Song, der noch einmal alles zurückholt. Ich mag keine Happy Ends, denn so ist es oft nicht.

Den geneigten Zuhörer:innen stellt sich natürlich die Frage: Ist »songs for all and none« als Fortsetzung deines Debütalbums ›The Story of Robert Volant‹ zu sehen?
In gewisser Weise ist es die Fortsetzung von Robert Volant, ja. Die Texte sind viel direkter als bei Robert Volant. Ich denke, ich kann an dieser Stelle verraten, dass Robert Volant lebt, dass er wiedergeboren ist und die Sachen jetzt klarsieht. Ich spreche in jedem Song vom Tod, damit ist natürlich nicht immer der physische Tod gemeint.

Du hast fast eineinhalb Jahre, seit Frühling 2020 an deinem zweiten Album gearbeitet. Glaubst du, es wäre ohne die schwierige Zeit der Corona-Pandemie genauso entstanden? Hat dich diese Zeit in deinem Schaffen gefördert oder gehemmt?
Ja wäre es. Durch meinen neuen Job kam ich an anderes Equipment, aber ich hätte es genauso gemacht. Ich meine: Man hatte jetzt viel Zeit für sich, war gezwungen, in sich zu gehen – und sich viel mit sich selbst zu beschäftigen. Man war nicht abgelenkt durch andere Sachen. Abgehalten hat es mich auf keinen Fall, vielleicht schon gefördert, weil ich einfach mehr Zeit dafür hatte. In gewisser Weise hat es sicherlich die Texte gefördert, weil noch viel mehr Eindrücke auf mich niedergeprasselt sind, weil viel aus der Gesellschaft zum Vorschein kam und ich auch mehr Nachrichten konsumiert habe: Die AFD hat viel mehr Platz in den Medien gewonnen, gewisse Demos wurden erlaubt, gewisse nicht, in der Politik sind viele Dinge ans Licht gekommen.

Fühlst du dich mit dem Begriff des Weltschmerzes wohl? Wenn ja, wie gehst du damit um?
Ja, Weltschmerz trifft den Nagel auf den Kopf. Ich meine all die Themen, die gerade aktuell sind: Gender, Tierschutz, Corona, Menschenrechte. Davor kann man sich verschließen, indem man nur Serien guckt oder nichts macht. Früher habe ich mich auch davor verschlossen, weil mich alles total abgefuckt hat, aber in den letzten Jahren habe ich mich mehr informiert. Und je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto schlimmer wurde es eigentlich. Das Grundgefühl bleibt beschissen, aber die Musik hilft mir dabei, diese Gefühle umzuwandeln. Das Album rauszubringen fühlte sich an wie eine Katharsis, wie eine Therapie. Mir geht es dadurch seelisch besser.

Zum Schluss verriet marc moraire noch, welche Musiker und Werke ihm als Inspiration dienten:
Alles was ich mache ist etwas kryptisch und mystisch, weil ich den Stil mag. Das habe ich vor allem von meinen Vorbildern, besonders von Jim Morrison (The Doors). Mein Klangideal war das Album Pink Moon von Nick Drake, das ist nur er mit einer Akustikgitarre, einmal kurz ein Klavier. Man hört ab und zu kleine Fehler, das finde ich sympathisch. Was unüblich ist in der Popmusik. Oder auch bei ›At Dawn‹ von My Morning Jacket, da knarzt ein Stuhl, jemand atmet, das finde ich tausendmal schöner – mit jedem Fehler, ist es perfekt.

Wir sprachen über Veganismus, CO2 Emissionen, den erbeuteten Reichtum des globalen Nordens. marc moraire geht es mit dieser inneren Zerrissenheit ein nachhaltiges Leben in einer nicht nachhaltigen Gesellschaftsstruktur führen zu wollen, wie vielen anderen Menschen. Diese Gefühle, den Weltschmerz und die Verarbeitung der gesellschaftlichen und globalen Missstände, verwandelt marc moraire in Zeilen wie diese:

Sometimes the world
Drips through the roof
And oozes out
Of the wall

I try and try
To keep it aloof
I try
Not to see it all
<span class="su-quote-cite">Song: Sleep</span>

Auch wenn das Grundgefühl ein Beschissenes bleibt, macht marc moraire klar: Sich vor der Welt zu verschließen und zu verstecken ist zwecklos – alles scheint durch die Wände zu dringen, die Missstände bleiben präsent. Seine Strategie ist daher die aktive Auseinandersetzung und musikalische Verarbeitung der äußeren Umstände und inneren Gefühlswelten sowie ein nachhaltiges Leben anzustreben. Beim Hören von ›songs for all and none‹ bleibt daher nur zu sagen: Danke, dass du dich für diesen Weg entschieden hast und uns teilhaben lässt! Und der Welt dieses Album mit in den Herbst gibst.

| SARAH SCHMITTINGER

›songs for all and none‹ gibt es frei zugänglich auf ITunes, Spotify, Amazon MP3 und YouTube Music. CDs und weitere Infos direkt beim Künstler: @marc.moraire (Facebook/Instagram).

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