Tage, Tage, Jahre

Kurzprosa | Literaturkalender 2022

Vielen dient er als Taktgeber und Orientierungshilfe, Kompass und kompakte Übersicht. Doch in der Verschmelzung mit Literatur erwächst eine tägliche Sinnesfreude und anregende Inspirationsquelle, die uns durch das ganze Jahr tragen kann. Wer sich jetzt schon einen Überblick verschafft, wird 2022 gut versorgt sein. INGEBORG JAISER kann einige bemerkenswerte Literaturkalender empfehlen.

Poesie mit Patenschaft

Die einzige Konstante ist die Veränderung. Wie man beständig neu aufersteht und dennoch seinen Wurzeln treu bleiben kann, zeigt mustergültig der Gedichtekalender, dessen Geschichte stets von enthusiastischen Büchermenschen geprägt wurde. Nach einer wechselvollen Vergangenheit hat dieses ursprünglich handgeschriebene und faksimilierte Schmuckstück eine neue Heimat in der Edition Klöpfer des Kröner Verlags gefunden, natürlich in gewohnt qualitätsvoller Gestaltung und Ausstattung.

Stilprägend auch der Wechsel von klassischen und modernen Gedichten zwischen Goethe und Gernhardt, Friedrich Hölderlin und Walle Sayer. Die Auswahl der Lieblingsgedichte lag für 2022 erstmals in der Hand von Patinnen und Paten, die sich der Poesie zugetan fühlen. So mag man sich gespannt fragen, welche lyrischen Zeilen die Moderatorin des »Literarischen Quartetts« Thea Dorn, die Schriftstellerin Theresia Walser oder der Literaturkritiker Denis Scheck wohl ausgewählt haben?

Kakaowärme, Kakaoglück

Vom minimalistischen Purismus zur überbordenden Farben- und Silbenvielfalt. Kinder lassen sich ganz besonders für Gedichte begeistern lassen, für Wohlklang, Reime und Wortspielereien. Wer könnte dies besser ermessen als die Mitarbeiter der Internationalen Jugendbibliothek in München, die wieder einmal aus der Fülle der weltweit erschienenen Bilder- und Kinderbücher eine wundervolle Auswahl getroffen haben. Für den mehrsprachigen, in berückender Farbenpracht illustrierten Kinderkalender 2022 der edition momente, der Gedichte aus 34 Ländern in 31 Sprachen präsentiert, inklusive ihrer deutschen Übersetzung.

Im Wochentakt tanzen magische Fabelwesen und sprechende Tiere übers Blatt, purzeln poetische Zeilen und rasselnde Reime durch das Jahr. So staunen wir im aufblühenden März über ein iranisches Gedicht in Farsi (»Alles regt sich, alles bewegt sich«), im pointillistisch unterlegten Juni über chinesische Schriftzeichen aus Taiwan (»Am Himmel hoch hängt feuerrot die Sonne«), bis dann im November schwedische Zeilen aus Finnland eine wohlige Kakaowärme in die nordische Kälte pusten. Ein prächtiger Kalender, der in Windeseile auch das Herz jung gebliebener Erwachsenen erobern wird.

Unvergessliche Momente

Was wäre die Weltliteratur ohne Erinnerungen, aus denen Geschichten erwachsen: Erinnerung an geliebte Menschen, prägende Begegnungen, heimatliche Orte. Oder an einen unvergessenen Geschmack, wie in Lindenblütentee getunkte Madeleines. Doch Marcel Proust ist nur einer von über 50 Autoren, die für das aktuelle Motto des Literaturkalenders 2022 Pate gestanden haben. Unter der Ägide des unermüdlichen Verlegerinnen-Duos Raabe/Vitali und dank der gewohnt geschmackvollen Gestaltung durch Max Bartholl ist wieder eine harmonische Melange aus autobiographischen Zitaten, interessanten Lebensdaten und erstaunlichen Fotografien entstanden. Der Kalender, der nun seit fast 40 Jahren auf dem Markt ist, wurde kürzlich mit dem Kalenderpreis des Deutschen Buchhandels in der Kategorie »Bester Longseller« ausgezeichnet. Gratulation!

Sie alle schwelgen in Momenten der Erinnerung: eine unübersehbar glückliche Jane Bowles zwischen Ehemann Paul, Truman Capote und einem Papagei (»… dass ich noch immer 4 Drinks brauche, um locker zu werden, gibt mir fast schon das Gefühl, wieder jung zu sein.«). Peter Rühmkorf denkt gern daran, wie seine geliebte Mutter und die des Schriftstellerkollegen Borchert »noch wettbewerblich um die Palme der Rüstigkeit rangen.« Und die nach Berlin zurückgekehrte Anna Seghers beschwört in Briefen dankbar ihre Zeit in Mexiko – »das Land, das mir eine Art Adoptivmutter geworden war« – herauf.

Dösen und Denken

»Mit Katzen fängt man Leser«, konstatierte kürzlich ein Kolumnist. Das mag auch für den Verlag Schöffling gelten, den man unumwunden als Erfinder des Literarischen Katzenkalenders bezeichnen darf. Seit einem Vierteljahrhundert begeistert dieser verlässliche Verkaufsschlager alle belesenen Katzenliebhaber. Das Erfolgsrezept liegt in der einzigartig charmanten Komposition aus Schwarzweißfotografien mit literarischen Fundstücken, Bonmots, Zitaten. Gekonnt zusammengestellt von Ida Schöffling, die sich hinter dem Pseudonym Julia Bachstein verbirgt. Gedruckt auf mattem, chamoisfarbenem Papier, unterlegt mit feuerroten Akzenten und gehalten von einer Spiralbindung im korrespondierenden Farbton.

In wöchentlichem Wechsel kommt ein samtpfotenliebender Schriftsteller, Philosoph oder Mensch des öffentlichen Lebens zu Wort. So wie Mitte Juni die Kinder- und Jugendbuchautorin Mirjam Pressler: »Katzen beschäftigen sich nicht nur mit Essen und Vermehrung, sondern auch mit anderen sinnvollen Tätigkeiten. Zum Beispiel mit Dösen und Denken.« Und wer mag wohl folgende kokette Frage stellen: »Welchen Teil von Miau hast Du nicht verstanden?«

Vom Rüssel bis zum Ringelschwanz

»Für alle, denen Katzen zu sauber sind«, hält der Erlanger homunculus Verlag ein besonderes Schmankerl bereit. Dem Literarischen Schweinekalender 2022 möchte man umgehend einen Sonderpreis für Originalität, Mut und Unangepasstheit verleihen. Dabei hat das kluge Borstenvieh längst seine Spuren in der Weltliteratur hinterlassen. Es fand nicht nur Eingang in die Werke von A.A. Milne (Pu der Bär) und Max Kruse (Urmel aus dem Eis), sondern wird auch bei Lautréamont, George Sand, Oskar Panizza erwähnt. Edgar Allan Poe ist gar folgende treffende Charakteristik zuzuschreiben: »Menschen sind senkrechte Schweine, Schweine sind senkrechte Menschen.«

Dieser einzigartige Monatskalender kombiniert außergewöhnliche Fotografien und schweinische Zitate mit einem besonderen Kalendarium, das täglich den Geburtstag eines Autors oder einer Autorin feiert, sowie ausgewählte Gedenk- und Feiertage wie den National Pig Day am 1. März oder den Verschenk-ein-Buch-Tag am 14. Februar. Schwein gehabt!

Knabe mit erkältetem Käfer

Als wahrer Tierfreund entpuppt sich auch der Tausendsassa Heinz Erhardt, der zeit seines Lebens als Schauspieler und Schriftsteller, Komponist, Kabarettist und Komiker brillierte. Seine oftmals kuriosen und immer urkomischen Anleihen an die Tierwelt (und das Leben an sich) finden Eingang in den Literarischen Wochenkalender 2022 des Lappan Verlages: vom Kabeljau bis zum erkälteten Käfer, vom alten Wolf bis zum wunderlichen Eichhorn.

Zurückhaltend, aber stets treffend und punktgenau illustriert von der mehrfach ausgezeichneten Hamburger Illustratorin Jutta Bauer. Die dem dunkel hinterlegten Gedicht »Winteranfang« ein kleines, neckisches Leuchten verpasst: »Verblüht sind Dahlien und Ginster. / Die Rechnung steigt für Öl und Licht. / Die Nächte werden wieder finster. / Der Tag nimmt ab. Die Oma nicht.« Nicht nur ausgewiesene Heinz-Erhardt-Fans werden sich für diesen feinen, sprachgewitzten und hochwertig ausgestatteten Wochenkalender erwärmen, der in der Vergangenheit bereits mehrfach mit dem Gregor Calendar Award ausgezeichnet wurde.

Leselust mit Wochenplaner

»Schreib den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt den zweiten lesen will«, lockt William Faulkner gleich auf dem ersten Kalenderblatt. Und zieht uns unweigerlich hinein in einen schwindelerregenden Kosmos aus Bücheransichten, bibliophilen Visionen, gedruckten Wortschöpfungen, Literaturzitaten und Weisheiten der Woche (auf der Rückseite jedes Blattes). Bis wir über fünfzig Mal umgeblättert, gestaunt und sinniert haben – und am Ende des Jahres folgenden Satz sofort unterschreiben würden: »Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen.«

Für diese unvergesslichen Begegnungen sorgt der Kalenderverlag Harenberg mit seinem beeindruckenden Leben mit Büchern 2022, das Wochenplaner, Inspirationsquelle und visuellen Augenschmaus vereint. Wer immer ein wohliges Gefühl beim Anblick von Bibliotheken und Bücherregalen hegt, doch zugleich den Überblick nicht verlieren möchte, liegt mit diesem Kalender vollkommen richtig. Alleinstellungsmerkmal unter den hier präsentierten Exemplaren: ausreichend Platz für eigene Termine und Notizen.

Mein Bücherjahr

Unter den Lesern des New Yorker und der New York Times hat sich längst schon eine ständig wachsende Fan-Gemeinde für Grant Snider etabliert. Der Illustrator und Comiczeichner (der im wirklichen Leben als Kieferorthopäde arbeitet!) vermag es wie kein anderer, das vielseitige, doch durchaus zwiespältige Leben von Bücherwürmern, Literaturenthusiasten und Bibliomanen abzubilden.

Egal, ob es um die »Erzähl-Achterbahn« (Februar), »Perfekte Orte zum Lesen« (Juni), »Das Buch der Zukunft« (August) oder »Das Lese-Manifest« (Oktober) geht: Grant Snider findet eine humorvolle, farben- und formenprächtige Bildersprache, die zuweilen in einem ausschweifenden Wimmelbild mündet. Es ist zu hoffen, dass der Booklovers Kalender 2022 als erstmalig im Lappan Verlag erscheinender Kalender-Pionier seiner Art eine beständige Fortsetzung finden wird. Einen Platz über unserem Schreibtisch wird ihm schon jetzt reserviert.

Inspiration für jeden Tag

Wer ambitioniert und ehrgeizig ins neue Jahr startet, sollte Konfuzius nicht außer Acht lassen: »Am Baum der guten Vorsätze gibt es viele Blüten, aber wenig Früchte.« (1. Januar) Dafür tröstet Jean Paul über so manchen jahreszeitlichen Hänger hinweg: »Das Schöne am Frühling ist, dass er immer gerade dann kommt, wenn man ihn am dringendsten braucht.« (21. März) Und Friedrich Dürrenmatt schürt zum Jahresende neue Hoffnungen auf die Zukunft: »Man darf nie aufhören, sich die Welt vorzustellen, wie sie am vernünftigsten wäre.« (26. Dezember).

Dazwischen liegen über 360 Blätter, ausgekleidet in allen Farben des Regenbogens, bestückt mit Weisheiten und Wahrheiten, mit literarischen Fundstücken, Zitaten und Sentenzen – von A wie Arthur Schnitzler bis Z wie Zelda Fitzgerald. Abreißen, loslassen wird somit zur ungemein inspirierenden täglichen Übung. Dieser nicht nur inhaltlich, sondern (mit 620 Gramm!) auch formal gewichtige Tageskalender kann mit jeder Hausbibliothek konkurrieren. Als Spross des Diogenes Verlags macht er natürlich optisch seiner Heimat alle Ehre. Und ist dank integriertem Aufsteller wahlweise an der Wand oder auf dem Tisch gut aufgehoben.

| INGEBORG JAISER

Kalenderangaben
Gedichtekalender 2022
Hrsg. von Hubert Klöpfer
Stuttgart: Kröner 2021
25.- Euro
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Der Kinderkalender 2022
Hrsg. von der Internationalen Jugendbibliothek
Zürich, Hamburg: edition momente 2021
22.- Euro
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Der Literatur Kalender 2022: Momente der Erinnerung
Zürich, Hamburg: edition momente 2021
22.- Euro
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Der literarische Katzenkalender 2022
Hrsg. von Julia Bachstein
Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2021
22,95 Euro
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Der literarische Schweinekalender 2022
Erlangen: homunculus Verlag 2021
16,90 Euro
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Heinz Erhardt – Literarischer Wochenkalender 2022
Mit Illustrationen von Jutta Bauer
Hamburg: Lappan 2021
16,99 Euro
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Leben mit Büchern 2022
Unterhaching: Harenberg 2021
18,99 Euro
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Grant Snider: Booklovers Kalender 2022
Hamburg: Lappan 2021
19,99 Euro
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Abreißen, loslassen 2022
Zürich: Diogenes 2021
17.- Euro
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