Suche nach Heimat in der Fremde

Roman | Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum

Die Autofiktion, diese kaum klar zu definierende Mischung aus Autobiografie und Fiktion, hat in dieser Buchsaison Hochkonjunktur bei Autoren und Autorinnen unterschiedlichen Alters und Provenienz. Julia Franck (51) hat sich mit ihrer beschwerlichen Jugend auseinander gesetzt, Hanns-Josef Ortheil (70) beschrieb, wie er sich nach einer schweren Herzoperation wieder zurück ins Leben gekämpft hat, und Emine Sevgi Özdamar legt mit ihrem ebenso opulenten wie ausschweifenden Band ihr gesamtes Leben und ihr künstlerisches Schaffen im Spagat zwischen zwei Kulturen offen. Von PETER MOHR

»Wenn man von seinem eigenen Land einmal weggegangen ist, dann kommt man in keinem neuen Land mehr an«, heißt es im vom Suhrkamp Verlag als Roman annoncierten Erzählwerk. Hier wird von der Suche nach Heimat, von Annäherungen an den fremden Lebenskreis, den damit verbundenen Schwierigkeiten und von Sehnsüchten und Enttäuschungen erzählt.

Die inzwischen 75-jährige, im türkischen Malatya geborene Autorin Emine Sevgi Özdamar, die 1991 für einen Auszug aus ihrem später erschienenen Roman Das Leben ist eine Karawanserei mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, holt hier weit aus, berichtet von ihren Erfahrungen, als sie in den 1960er Jahren das erste Mal nach West-Berlin kam, mit einem befristeten Arbeitsvertrag eines Elektrokonzerns in der Tasche. Später etabliert sie sich (dank Fürsprache ihres Mentors Benno Besson) als Schauspielerin an verschiedenen deutschen und französischen Bühnen.

Özdamars Tonfall schwankt zwischen Euphorie und Melancholie. Oft hat sie aus ihrer Wut über erlittene Demütigungen im Alltag neue Energie gewonnen – ganz nach dem Motto: Jetzt erst recht.

Sie hat sich in ihrem Text bewusst an Stereotypen abgearbeitet – das Bild von der ungebildeten türkischen Putzfrau schwebt wie ein Leitmotiv, das hier zum Leidmotiv mutiert, über dem Erzählkosmos. Sie plaudert in ihrem anekdotenreichen Text über eine spontane Idee, als sie bei den Proben zu Thomas Braschs »Lieber Georg« am Bochumer Schauspielhaus als schwangere Putzfrau mit Eimer auf die Bühne kam. Regisseur Matthias Langhoff war davon so begeistert, dass er Özdamars Improvisation in seine Inszenierung integrierte. Bochum war in Özdamars bewegter Vita eine Art Gegenpol zu den großen Metropolen Istanbul, Berlin und Paris, die ihr Leben prägten.

Die Suche nach der geografischen Heimat ist bei Özdamar ungleich schwieriger als die Suche nach ihrer geistigen Heimat. In der Kunst, auf der Theaterbühne und später in ihren Büchern, hat Emine Sevgi Özdamar sich ihre Lebensnische eingerichtet, stets neue Herausforderungen suchend. Über ihre Zeit mit Benno Besson in Paris bleiben bei der Lektüre vor allem ihre imaginierten Zwiegespräche mit Edith Piaf und Bert Brecht im Gedächtnis. Fantasievoll und kenntnisreich im Stil einer großen Essayistin nähert sich Özdamar diesen beiden Künstler-Vorbildern. Angerissen wird auch die öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung mit ihrem Schriftstellerkollegen Feridun Zaimoglu, dem vorgeworfen worden war, Özdamars Erfolgsroman Das Leben ist eine Karawanserei plagiiert zu haben.

Hier geht es aber auch noch um weit mehr als Özdamars eigene Vita. Sie setzt sich mit religiösem Fanatismus und politischer Radikalisierung auseinander. Die Attentate in Paris im Jahr 2015 thematisiert sie ebenso wie das unendliche Leid der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer und die zunehmende sexualisierte Gewalt im Alltag.

Die sprechenden Krähen, die im Text als eine Art kommentierendes Über-Ich wiederholt auftreten, bringen das Spannungsfeld zwischen Außenseitertum und falschen Erwartungshaltungen präzise auf den Punkt: »Du kannst in Europa vielleicht auch berühmt werden, vielleicht Schauspielerin oder Schriftstellerin, aber du wirst keine Ruhe finden. Sie werden dich loben und schreiben, dass du die Pionierin der türkischen Künstler bist, dass du eine Brücke zwischen der Türkei und Deutschland bist, dass du die einzige emanzipierte Türkin bist, dass du das beste Beispiel der Integration bist.«

Genau dagegen hat sich Emine Sevgi Özdamar hartnäckig gewehrt, gegen das Attribut der angepassten Vorzeige-Türkin. Es war bis hierher ein Leben zwischen Schuldgefühlen und Besserseinwollen, ein täglicher Drahtseilakt zwischen Adaption und Selbstbehauptung.

Dieser umfangreiche Band liest sich trotz einiger (durchaus verzeihlicher) erzählerischer Längen absolut authentisch und völlig unpathetisch. Das ist anspruchsvoller Künstlerroman, ehrliche Autobiografie, bewegende Migrationsgeschichte und künstlerische Anleitung zur Verständigung in einem – komprimiert zwischen zwei Buchdeckeln. Und irgendwo in diesem opulenten Erzählmonstrum hat uns Emine Sevgi Özdamar dann doch verraten, wo sie heimisch ist. »Ich wohne in den Schatten, die sich mit Leben erfüllen.«

| PETER MOHR

Titelangaben
Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum
Berlin: Suhrkamp Verlag 2021
757 Seiten. 28 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Vom Stottern und dem Fluss

Nächster Artikel

Helfen ist eigentlich ja so einfach

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Angst, Hunger und Durst

Roman | Jesús Carrascos: Die Flucht Jesús Carrascos glänzendes Romandebüt Die Flucht. Von PETER MOHR

Romane waren der fehlende Rest

Menschen | Zum 85. Geburtstag des Georg-Büchner-Preisträgers Jürgen Becker Als »eine maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie« wurde Jürgen Becker vor drei Jahren völlig zu Recht bezeichnet, als ihm der Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung Deutschlands, verliehen wurde. Von PETER MOHR

Money, Money, Money

Roman | Ernst Augustin: Gutes Geld (Neuauflage)

Im vergangenen Jahr ist Ernst Augustin 85 Jahre alt geworden. Gefeiert wurde der Schriftsteller damals nicht nur wegen seines Geburtstages, sondern auch wegen seines jüngsten Romans Robinsons blaues Haus. Die todheitere Robinsonade brachte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises und ihren mittlerweile nahezu erblindeten Verfasser noch einmal in die Feuilletons dieses Landes. Von FLORIAN WELLE

Beichte ohne Buße

Roman | John von Düffel: Die Wütenden und die Schuldigen

Wie begegnen sich Menschen in Zeiten der Kontaktbeschränkung und des Social Distancing? Was macht die Corona-Pandemie mit Familien? Wie nah liegen Leben und Tod beisammen? Von emotionaler Zerrissenheit und tiefgreifenden Konflikten dreier Generationen im Frühjahr 2020 erzählt John von Düffels neuer Roman Die Wütenden und die Schuldigen, episodenhaft und aus wechselnder Perspektive. Von INGEBORG JAISER

Pilgern für Fortgeschrittene

Roman | Stephan Thome: Fliehkräfte Nur zwei Romane hat Stephan Thome bislang verfasst – und beide landeten umgehend auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis: 2009 sein fulminantes Debüt Grenzgang und wenige Jahre später seine weit verzweigten Fliehkräfte. Von INGEBORG JAISER